Mit Peitschen getrieben
Fratres: ein Grenzdorf im Waldviertel. Ein paar Bauernhöfe, vereinzelt Neubauten. Im Juni 1945 wurden hier 18 an Hunger und Erschöpfung gestorbene Kleinstkinder abgelegt. Grausamer Schlusspunkt unter die Vertrei
bung der Deutschsprachigen aus der Iglauer Sprachinsel. Wie es dazu kam – und was danach folgte.
So gut wie gar nichts erinnert an den Ort der Tragödie vom Juni 1945. Fratres präsentiert sich als von Abwanderung und Überalterung betroffenes Grenzdorf im Waldviertel wie viele andere auch: ein paar Bauernhöfe, menschenleere Anwesen, vereinzelt Neubauten. Der Ort ist vor allem durch das Museum Humanum des kunstsinnigen Weltenbummlers Peter Coreth und dessen Kulturbrücke Fratres bekannt geworden. In einem alten, liebevoll restaurierten Gutshof treten Sommer für Sommer Literaten, Künstler und Intellektuelle aus Österreich und Tschechien auf.
Im Juni 1945 wurden hier 18 an Hunger und Erschöpfung gestorbene Kleinstkinder abgelegt. Es war der grausame Schlusspunkt unter die Vertreibung der Deutschen aus der 70 Kilometer nördlich gelegenen Iglauer Sprachinsel. Die auf der böhmisch-mährischen Höhe, etwa auf halbem Weg zwischen Brünn und Prag gelegene mittelalterliche Bergbau- und spätere Tuchmacherstadt Iglau (Jihlava) war über Jahrhunderte hinweg Zentrum einer deutschen Ansiedelung im tschechischen Umland.
In den Maitagen des Jahres 1945 waren in vielen Städten des von Nazi-Deutschland nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939 errichteten „Protektorats Böhmen und Mähren“Aufstände ausgebrochen, die von Wehrmacht, Waffen-SS und paramilitärischen Verbänden blutig und brutal niedergeschlagen wurden. In Groß Messeritsch (Velke´ Meziˇr´ıc´ı), westlich von Iglau, hatten SS und Hitlerjugend 63 Aufständische erschossen, im südlich gelegenen Triesch (Treˇst),ˇ Herkunftsort des österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter und beliebter Sommerfrische-Aufenthaltsort Franz Kafkas, 33 Menschen. Die große deutschsprachige jüdische Gemeinde war bereits 1942 von den deutschen Besatzern vernichtet worden.
In Iglau geht der Umsturz unblutig vor sich. Ein tschechischer Nationalausschuss übernimmt im Fahrwasser der Roten Armee, die unter Glockengeläute und dem Jubel der Tschechen eingezogen war, die Macht. Deutsche Militärs und Verwaltungsbeamte, Gestapo und Schutzpolizisten ziehen ab. Übrig bleiben rund 16.000 deutsche Einwohner der Stadt und des bäuerlichen Umlandes. Sie sinken innerhalb weniger Tage vom ihnen vom NS-Regime zugeschriebenen Status privilegierter „Herren-“zu dem rechtloser „Untermenschen“, die von selbst ernannten Revolutionsgardisten, Partisanen und Rotarmisten aus ihren Häusern geschleppt oder auf offener Straße verhaftet werden.
Aus Verzweiflung über den Regimewechsel, Angst vor Rache oder der Aussichtslosigkeit eines Weiterlebens unter den neuen Umständen begehen innerhalb weniger Tage mehr als 200 Menschen Selbstmord: Es sind nicht selten ganze Familien darunter, die sich selbst auslöschen. Am 10. Mai sind der tschechoslowakische Minister Bohumil Lausmannˇ und Armeekommandant Ludv´ık Svoboda (der dann als Staatspräsident im Prager Frühling Bekanntheit erlangte) in der Stadt und rufen die tschechische Bevölkerung dazu auf, die Deutschen zu internieren und über die Grenze zu treiben.
Das deutsche Problem „liquidieren“
Ein paar Tage darauf macht der aus dem Londoner Exil ins Land zurückgekehrte Präsident Edvard Benesˇ auf seiner triumphalen Fahrt durch die befreite Republik Station in Iglau. In der mährischen Landeshauptstadt Brünn, wie Iglau deutsch-tschechisch durchmischt, hatte er bereits vorher vor einer jubelnden Menschenmenge sein „Programm“verkündet, das deutsche Problem in der Tschechoslowakei endgültig zu „liquidieren“. Zum Schutz des Präsidenten auf der Durchreise durch Iglau werden dann auch Tausende deutsche Stadtbewohner aus ihren Häusern getrieben und am örtlichen Sokol-Sportplatz interniert. In den Wäldern der Umgebung, aber auch in der Stadt kommt es noch zu Schusswechseln. Fanatische Nationalsozialisten weigern sich zu kapitulieren, Gerüchte über deutsche „Wehrwölfe“, Himmlers NaziPartisanen, machen die Runde.
Erst mit dem Eintreffen eines Truppenkorps der tschechoslowakischen Armee können aber die Pläne für die „Säuberung“der Stadt von den Deutschen und deren „Abschub“realisiert werden. Auf den Hausmauern taucht die Parole „Nemciˇ ven – Die Deutschen raus“auf. Eine „Evakuierungskommission“wird genauso gebildet wie eine zur Vergabe von Wohnungen an „slawische“Interessenten. Die in Prag und Brünn propagierte nationale und soziale Revolution präsentiert sich in der lokalen Praxis nicht selten als sim mit Bleiberecht („Antifaschisten“und Juden), diejenigen, die um ein Bleiberecht ansuchen dürfen, sowie die Abzuschiebenden. Angehörige der beiden letztgenannten Gruppen werden nun in eilig eingerichtete Internierungslager gebracht, von wo aus sie „entweder über die Grenze oder in ein Konzentrationslager“abtransportiert werden sollten, wie die neue Stadtführung verlautbart.
Die Lager sind in ausrangierten Fabrikhallen untergebracht, die Tausenden Internierten den Schikanen des Wachpersonals hilf- und rechtlos ausgeliefert. Die Verpflegung besteht aus Erdäpfelsuppe, Brot und Kaffee. Die Ruhr bricht aus. Vor allem Alte und Kleinstkinder fallen den katastrophalen hygienischen Verhältnissen zum Opfer und sterben. Einige der Insassen haben aus ihren Häusern Lebensmittel, manche sogar Hühner mitgebracht, die sie nun verkochen. Die Männer werden jeden Tag zum Arbeitseinsatz abgeholt, die Aufenthaltskosten müssen von den Insassen getragen werden. 19 Männer, denen Verstrickungen in das NS-Regime vorgeworfen werden, werden von einem „Revolutionstribunal“verurteilt und erschossen.
Am 9. Juni werden die ersten Gruppen auf den Fußmarsch in Richtung der 70 Kilometer entfernten österreichischen Grenze geschickt. Angetrieben werden sie von den Bewachern, meist jungen Burschen in Uniform, mit Hundepeitschen und Lederriemen. Teilnehmer an dem Marsch berichten später, dass Menschen, die nicht mehr weiter konnten oder wollten, in den Straßengräben landeten und dort ihrem Schicksal überlassen wurden. Tschechische Bauern, die den Vorbeiziehenden Milch und Erdäpfel zustecken wollen, werden verjagt. Keine menschliche Regung soll die nationale „Säuberung“stören. Vor der Renaissancestadt Telcˇ stoppt der Zug jedoch. Der Weitermarsch scheitert an der Weigerung der österreichischen Grenzorgane, die Leute aufzunehmen. Nur die wenigen österreichischen Staatsbürger dürfen und müssen weiter. Der Rest wird wieder zurückgetrieben und landet im südlich von Iglau gelegenen Stannern (Stonaˇrov), bekannt geworden als Geburtsort des österreichischen NS-Politikers und Kriegsverbrechers Arthur Seyß-Inquart. Zunächst muss die Nacht unter freiem Himmel verbracht werden. Wiederum sterben kranke und entkräftete Menschen, wiederum werden die Männer jeden Tag zur
Arbeit geholt. Sie werden in Baracken des ehemaligen NS-Reichsarbeitsdiensts (RAD) untergebracht, die Frauen in der Volksschule. Das Geburtshaus von Seyß-Inquart dient als Gefangenenraum.
Zwei Wochen später startet der Marsch aus Stannern Richtung Grenze. Diesmal sind es vor allem Frauen und Kinder, die eingereiht werden. Als der Zug nach einer kurzen Nachtruhe, die im Stehen verbracht werden muss, das Grenzstädtchen Zlabings (Slavonice) erreicht, sind die meisten am Ende ihrer Kräfte. Nach einer Perlustrierung schleppen sie sich mit letzter Kraft über die Grenze, erreichen Fratres. Noch auf tschechischem Gebiet stirbt ein Säugling, in Österreich in den nächsten Tagen sterben weitere 23. In den Matriken der Pfarre Waldkirchen, zu der auch Fratres gehört, wird als Todesursache „Erschöpfung“genannt. Mehrere Erwachsene, alle über 70 Jahre alt, verüben Selbstmord.
In Österreich werden die Menschen vor allem als Belastung wahrgenommen. Die Dörfer an der Grenze sind bereits überfüllt mit den Vertriebenen aus dem benachbarten Südmähren, Häuser, Höfe, Scheunen mit oft Dutzenden Menschen belegt. Im neben Fratres gelegenen Gilgenberg sind bei 132 Einwohnern 213 Vertriebene untergebracht. Der Bürgermeister ersucht die Bezirkshauptmannschaft in Waidhofen an der Thaya, „in Zukunft keine Aufenthaltsgenehmigungen“mehr auszustellen, da er weder Wohnraum noch Brennmaterial zu vergeben habe.
Da in den nächsten Tagen mit Eisenbahntransporten noch mehr Menschen kommen, sind bald 10.000 Iglauer im Grenzbezirk. Sie sind Teil jener 300.000 Sudetendeutschen, die im Rahmen der „wilden Vertreibung“aus der Tschechoslowakei nach Österreich gejagt wurden. Es fehlt an allem: Nahrung, Wohnraum, ärztlicher Betreuung, Lehrern. Während viele Einheimische trotz allem zu helfen versuchen, weht den Vertriebenen von Politik und Bürokratie ein scharfer Wind entgegen. Neben der schwierigen Versorgungslage ist es die Abkehr vom großdeutschen Konsens vor 1938, der für Ablehnung sorgt. Der Waidhofener Bezirkshauptmann Johann Haushofer, selbst NS-Opfer, korrigiert die Bürgermeister, wenn sie vom für Österreich „verlorenen Krieg“schreiben. In den Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei sieht er Habenichtse und deutschnationale Unruhestifter, die das gute Verhältnis zur Tschechoslowakei trüben würden. Schon in der Vergangenheit, so lässt er verlautbaren, hätten die Sudetendeutschen immer wieder versucht, „alle deutschsprechenden Gebiete unter die Fuchtel der deutschen Herrenschicht zu bringen, Seyß-Inquart, der angeblich früher Seiß-Sterlicek geheißen hat, und andere Ultra-Deutschen unseligen Andenkens“.
Kampf ums Überleben
Die Menschen ziehen im Kampf ums Überleben aus den Grenzdörfern weiter ins Landesinnere, ernähren sich von Milch und Erdäpfeln, betteln bei Bauern um Arbeit gegen Kost und Logis. Viele Frauen sind mit ihren Kindern und den Großeltern auf sich allein gestellt, ihre Männer noch nicht zurückgekehrt aus dem Kriegseinsatz. Wer arbeiten kann, findet leichter Aufnahme, ist jedoch dem guten Willen seiner Dienstgeber ausgesetzt.
Die schwere Feldarbeit ist für viele ehemalige Stadtbewohner ungewohnt. Die Iglauer hatten vor 1945 kaum Anknüpfungspunkte an das Waldviertel. Zum Statusverlust kommt jetzt das Erleben von Anderssein und Fremdheit. Im März 1946 erfolgt schließlich erneut ein Abschiebebefehl. Alle, die nicht gebraucht werden oder auf verschlungenen Wegen eine Bleibegenehmigung bekommen haben, sollen nach Deutschland verbracht werden. Die Menschen werden registriert und ins ehemalige KZ Melk transportiert. Dort wird ein Sammellager eingerichtet, über das sie gemeinsam mit Zehntausenden Sudetendeutsche nach Deutschland geschleust werden.
Jahrzehnte später wird am Friedhof in Waldkirchen eine Gedenkstätte für die im Zuge der Vertreibungen verstorbenen Kinder errichtet. Seit geraumer Zeit legen auch Vertreter der jetzt tschechischen Stadt Jihlava bei den Gedenkfeiern Kränze nieder.