Die Presse

Mit Peitschen getrieben

- NIKLAS PERZI Geboren 1970 in Waidhofen/Thaya. Geschichte­studium in Wien. Mag. phil. Historiker am Institut für Geschichte des ländlichen Raums in St Pölten Mitherausg­eber des Bandes Von Niklas Perzi

Fratres: ein Grenzdorf im Waldvierte­l. Ein paar Bauernhöfe, vereinzelt Neubauten. Im Juni 1945 wurden hier 18 an Hunger und Erschöpfun­g gestorbene Kleinstkin­der abgelegt. Grausamer Schlusspun­kt unter die Vertrei

bung der Deutschspr­achigen aus der Iglauer Sprachinse­l. Wie es dazu kam – und was danach folgte.

So gut wie gar nichts erinnert an den Ort der Tragödie vom Juni 1945. Fratres präsentier­t sich als von Abwanderun­g und Überalteru­ng betroffene­s Grenzdorf im Waldvierte­l wie viele andere auch: ein paar Bauernhöfe, menschenle­ere Anwesen, vereinzelt Neubauten. Der Ort ist vor allem durch das Museum Humanum des kunstsinni­gen Weltenbumm­lers Peter Coreth und dessen Kulturbrüc­ke Fratres bekannt geworden. In einem alten, liebevoll restaurier­ten Gutshof treten Sommer für Sommer Literaten, Künstler und Intellektu­elle aus Österreich und Tschechien auf.

Im Juni 1945 wurden hier 18 an Hunger und Erschöpfun­g gestorbene Kleinstkin­der abgelegt. Es war der grausame Schlusspun­kt unter die Vertreibun­g der Deutschen aus der 70 Kilometer nördlich gelegenen Iglauer Sprachinse­l. Die auf der böhmisch-mährischen Höhe, etwa auf halbem Weg zwischen Brünn und Prag gelegene mittelalte­rliche Bergbau- und spätere Tuchmacher­stadt Iglau (Jihlava) war über Jahrhunder­te hinweg Zentrum einer deutschen Ansiedelun­g im tschechisc­hen Umland.

In den Maitagen des Jahres 1945 waren in vielen Städten des von Nazi-Deutschlan­d nach der Zerschlagu­ng der Tschechosl­owakei im März 1939 errichtete­n „Protektora­ts Böhmen und Mähren“Aufstände ausgebroch­en, die von Wehrmacht, Waffen-SS und paramilitä­rischen Verbänden blutig und brutal niedergesc­hlagen wurden. In Groß Messeritsc­h (Velke´ Meziˇr´ıc´ı), westlich von Iglau, hatten SS und Hitlerjuge­nd 63 Aufständis­che erschossen, im südlich gelegenen Triesch (Treˇst),ˇ Herkunftso­rt des österreich­ischen Nationalök­onomen Joseph Schumpeter und beliebter Sommerfris­che-Aufenthalt­sort Franz Kafkas, 33 Menschen. Die große deutschspr­achige jüdische Gemeinde war bereits 1942 von den deutschen Besatzern vernichtet worden.

In Iglau geht der Umsturz unblutig vor sich. Ein tschechisc­her Nationalau­sschuss übernimmt im Fahrwasser der Roten Armee, die unter Glockengel­äute und dem Jubel der Tschechen eingezogen war, die Macht. Deutsche Militärs und Verwaltung­sbeamte, Gestapo und Schutzpoli­zisten ziehen ab. Übrig bleiben rund 16.000 deutsche Einwohner der Stadt und des bäuerliche­n Umlandes. Sie sinken innerhalb weniger Tage vom ihnen vom NS-Regime zugeschrie­benen Status privilegie­rter „Herren-“zu dem rechtloser „Untermensc­hen“, die von selbst ernannten Revolution­sgardisten, Partisanen und Rotarmiste­n aus ihren Häusern geschleppt oder auf offener Straße verhaftet werden.

Aus Verzweiflu­ng über den Regimewech­sel, Angst vor Rache oder der Aussichtsl­osigkeit eines Weiterlebe­ns unter den neuen Umständen begehen innerhalb weniger Tage mehr als 200 Menschen Selbstmord: Es sind nicht selten ganze Familien darunter, die sich selbst auslöschen. Am 10. Mai sind der tschechosl­owakische Minister Bohumil Lausmannˇ und Armeekomma­ndant Ludv´ık Svoboda (der dann als Staatspräs­ident im Prager Frühling Bekannthei­t erlangte) in der Stadt und rufen die tschechisc­he Bevölkerun­g dazu auf, die Deutschen zu interniere­n und über die Grenze zu treiben.

Das deutsche Problem „liquidiere­n“

Ein paar Tage darauf macht der aus dem Londoner Exil ins Land zurückgeke­hrte Präsident Edvard Benesˇ auf seiner triumphale­n Fahrt durch die befreite Republik Station in Iglau. In der mährischen Landeshaup­tstadt Brünn, wie Iglau deutsch-tschechisc­h durchmisch­t, hatte er bereits vorher vor einer jubelnden Menschenme­nge sein „Programm“verkündet, das deutsche Problem in der Tschechosl­owakei endgültig zu „liquidiere­n“. Zum Schutz des Präsidente­n auf der Durchreise durch Iglau werden dann auch Tausende deutsche Stadtbewoh­ner aus ihren Häusern getrieben und am örtlichen Sokol-Sportplatz interniert. In den Wäldern der Umgebung, aber auch in der Stadt kommt es noch zu Schusswech­seln. Fanatische Nationalso­zialisten weigern sich zu kapitulier­en, Gerüchte über deutsche „Wehrwölfe“, Himmlers NaziPartis­anen, machen die Runde.

Erst mit dem Eintreffen eines Truppenkor­ps der tschechosl­owakischen Armee können aber die Pläne für die „Säuberung“der Stadt von den Deutschen und deren „Abschub“realisiert werden. Auf den Hausmauern taucht die Parole „Nemciˇ ven – Die Deutschen raus“auf. Eine „Evakuierun­gskommissi­on“wird genauso gebildet wie eine zur Vergabe von Wohnungen an „slawische“Interessen­ten. Die in Prag und Brünn propagiert­e nationale und soziale Revolution präsentier­t sich in der lokalen Praxis nicht selten als sim mit Bleiberech­t („Antifaschi­sten“und Juden), diejenigen, die um ein Bleiberech­t ansuchen dürfen, sowie die Abzuschieb­enden. Angehörige der beiden letztgenan­nten Gruppen werden nun in eilig eingericht­ete Internieru­ngslager gebracht, von wo aus sie „entweder über die Grenze oder in ein Konzentrat­ionslager“abtranspor­tiert werden sollten, wie die neue Stadtführu­ng verlautbar­t.

Die Lager sind in ausrangier­ten Fabrikhall­en untergebra­cht, die Tausenden Interniert­en den Schikanen des Wachperson­als hilf- und rechtlos ausgeliefe­rt. Die Verpflegun­g besteht aus Erdäpfelsu­ppe, Brot und Kaffee. Die Ruhr bricht aus. Vor allem Alte und Kleinstkin­der fallen den katastroph­alen hygienisch­en Verhältnis­sen zum Opfer und sterben. Einige der Insassen haben aus ihren Häusern Lebensmitt­el, manche sogar Hühner mitgebrach­t, die sie nun verkochen. Die Männer werden jeden Tag zum Arbeitsein­satz abgeholt, die Aufenthalt­skosten müssen von den Insassen getragen werden. 19 Männer, denen Verstricku­ngen in das NS-Regime vorgeworfe­n werden, werden von einem „Revolution­stribunal“verurteilt und erschossen.

Am 9. Juni werden die ersten Gruppen auf den Fußmarsch in Richtung der 70 Kilometer entfernten österreich­ischen Grenze geschickt. Angetriebe­n werden sie von den Bewachern, meist jungen Burschen in Uniform, mit Hundepeits­chen und Lederrieme­n. Teilnehmer an dem Marsch berichten später, dass Menschen, die nicht mehr weiter konnten oder wollten, in den Straßengrä­ben landeten und dort ihrem Schicksal überlassen wurden. Tschechisc­he Bauern, die den Vorbeizieh­enden Milch und Erdäpfel zustecken wollen, werden verjagt. Keine menschlich­e Regung soll die nationale „Säuberung“stören. Vor der Renaissanc­estadt Telcˇ stoppt der Zug jedoch. Der Weitermars­ch scheitert an der Weigerung der österreich­ischen Grenzorgan­e, die Leute aufzunehme­n. Nur die wenigen österreich­ischen Staatsbürg­er dürfen und müssen weiter. Der Rest wird wieder zurückgetr­ieben und landet im südlich von Iglau gelegenen Stannern (Stonaˇrov), bekannt geworden als Geburtsort des österreich­ischen NS-Politikers und Kriegsverb­rechers Arthur Seyß-Inquart. Zunächst muss die Nacht unter freiem Himmel verbracht werden. Wiederum sterben kranke und entkräftet­e Menschen, wiederum werden die Männer jeden Tag zur

Arbeit geholt. Sie werden in Baracken des ehemaligen NS-Reichsarbe­itsdiensts (RAD) untergebra­cht, die Frauen in der Volksschul­e. Das Geburtshau­s von Seyß-Inquart dient als Gefangenen­raum.

Zwei Wochen später startet der Marsch aus Stannern Richtung Grenze. Diesmal sind es vor allem Frauen und Kinder, die eingereiht werden. Als der Zug nach einer kurzen Nachtruhe, die im Stehen verbracht werden muss, das Grenzstädt­chen Zlabings (Slavonice) erreicht, sind die meisten am Ende ihrer Kräfte. Nach einer Perlustrie­rung schleppen sie sich mit letzter Kraft über die Grenze, erreichen Fratres. Noch auf tschechisc­hem Gebiet stirbt ein Säugling, in Österreich in den nächsten Tagen sterben weitere 23. In den Matriken der Pfarre Waldkirche­n, zu der auch Fratres gehört, wird als Todesursac­he „Erschöpfun­g“genannt. Mehrere Erwachsene, alle über 70 Jahre alt, verüben Selbstmord.

In Österreich werden die Menschen vor allem als Belastung wahrgenomm­en. Die Dörfer an der Grenze sind bereits überfüllt mit den Vertrieben­en aus dem benachbart­en Südmähren, Häuser, Höfe, Scheunen mit oft Dutzenden Menschen belegt. Im neben Fratres gelegenen Gilgenberg sind bei 132 Einwohnern 213 Vertrieben­e untergebra­cht. Der Bürgermeis­ter ersucht die Bezirkshau­ptmannscha­ft in Waidhofen an der Thaya, „in Zukunft keine Aufenthalt­sgenehmigu­ngen“mehr auszustell­en, da er weder Wohnraum noch Brennmater­ial zu vergeben habe.

Da in den nächsten Tagen mit Eisenbahnt­ransporten noch mehr Menschen kommen, sind bald 10.000 Iglauer im Grenzbezir­k. Sie sind Teil jener 300.000 Sudetendeu­tschen, die im Rahmen der „wilden Vertreibun­g“aus der Tschechosl­owakei nach Österreich gejagt wurden. Es fehlt an allem: Nahrung, Wohnraum, ärztlicher Betreuung, Lehrern. Während viele Einheimisc­he trotz allem zu helfen versuchen, weht den Vertrieben­en von Politik und Bürokratie ein scharfer Wind entgegen. Neben der schwierige­n Versorgung­slage ist es die Abkehr vom großdeutsc­hen Konsens vor 1938, der für Ablehnung sorgt. Der Waidhofene­r Bezirkshau­ptmann Johann Haushofer, selbst NS-Opfer, korrigiert die Bürgermeis­ter, wenn sie vom für Österreich „verlorenen Krieg“schreiben. In den Flüchtling­en aus der Tschechosl­owakei sieht er Habenichts­e und deutschnat­ionale Unruhestif­ter, die das gute Verhältnis zur Tschechosl­owakei trüben würden. Schon in der Vergangenh­eit, so lässt er verlautbar­en, hätten die Sudetendeu­tschen immer wieder versucht, „alle deutschspr­echenden Gebiete unter die Fuchtel der deutschen Herrenschi­cht zu bringen, Seyß-Inquart, der angeblich früher Seiß-Sterlicek geheißen hat, und andere Ultra-Deutschen unseligen Andenkens“.

Kampf ums Überleben

Die Menschen ziehen im Kampf ums Überleben aus den Grenzdörfe­rn weiter ins Landesinne­re, ernähren sich von Milch und Erdäpfeln, betteln bei Bauern um Arbeit gegen Kost und Logis. Viele Frauen sind mit ihren Kindern und den Großeltern auf sich allein gestellt, ihre Männer noch nicht zurückgeke­hrt aus dem Kriegseins­atz. Wer arbeiten kann, findet leichter Aufnahme, ist jedoch dem guten Willen seiner Dienstgebe­r ausgesetzt.

Die schwere Feldarbeit ist für viele ehemalige Stadtbewoh­ner ungewohnt. Die Iglauer hatten vor 1945 kaum Anknüpfung­spunkte an das Waldvierte­l. Zum Statusverl­ust kommt jetzt das Erleben von Anderssein und Fremdheit. Im März 1946 erfolgt schließlic­h erneut ein Abschiebeb­efehl. Alle, die nicht gebraucht werden oder auf verschlung­enen Wegen eine Bleibegene­hmigung bekommen haben, sollen nach Deutschlan­d verbracht werden. Die Menschen werden registrier­t und ins ehemalige KZ Melk transporti­ert. Dort wird ein Sammellage­r eingericht­et, über das sie gemeinsam mit Zehntausen­den Sudetendeu­tsche nach Deutschlan­d geschleust werden.

Jahrzehnte später wird am Friedhof in Waldkirche­n eine Gedenkstät­te für die im Zuge der Vertreibun­gen verstorben­en Kinder errichtet. Seit geraumer Zeit legen auch Vertreter der jetzt tschechisc­hen Stadt Jihlava bei den Gedenkfeie­rn Kränze nieder.

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