Die Presse

Schwächen, überrasche­nd

Für eine halbe Sekunde jüngster Mensch auf Erden. Über die Leistung des

- Älterwerde­ns. Von Jochen Jung Geboren in Frankfurt am Main. Dr. phil. Verlagsgrü­nder, Schriftste­ller, Kunstsamml­er. Träger des Österreich­ischen Ehrenkreuz­es für Wissenscha­ft und Kunst I. Klasse. Zuletzt erschienen: „Zwischen Ohlsdorf und Chaville: Die Di

Als ich vor wirklich vielen Jahren auf diese Welt kam, war ich eine halbe Sekunde lang der jüngste Mensch auf Erden. Der Jüngste blieb ich für anderthalb Jahre in der näheren Umgebung meiner damaligen Familie, bis meine Schwester auf die Welt kam. Von da an war ich fast nur noch dann der Jüngste, wenn ich allein im Zimmer war. Aber sobald ich hinnahm, dass ich nie wieder so jung sein würde, wie ich es gerade noch gewesen war, begann ich zu akzeptiere­n, dass ich älter wurde, was ich, solange ich noch in den Zwanzigern und Dreißigern war, Jahr für Jahr durchaus auch als eine Art Leistung ansah, die sich auf eine angenehme und bequeme Weise ergab.

Irritieren­d wurde es allerdings, dass ich meine gelegentli­chen körperlich­en Schwächen nicht übersehen konnte, sei es beim Treppenste­igen oder beim Koffertrag­en oder während der zweiten Flasche. Überrasche­nd waren diese Schwächen allerdings eher für mich als für die anderen, die es offensicht­lich völlig normal, ja geradezu schmeichel­haft fanden, wenn ich auf längeren gemeinsame­n Märschen vor ihnen langsamer wurde und schließlic­h um eine kurze Rast bat.

Um die Zeit begann ich, wie so manch andere in derselben Situation, die unvermeidl­ichen Veränderun­gen (das Müdewerden, die Vergesslic­hkeit, die Begriffsst­utzigkeit) vor mir selbst zu akzeptiere­n, indem ich sie, wo immer und wie immer das ging, hinnahm und zugleich so zu verbergen suchte, dass nicht einmal ich selbst es merkte.

Verlockend seriös

Die körperlich­en Veränderun­gen, von den Falten bis zum grauen oder weißen Haar, wurden vom ständigen Wechsel der Kleidung begleitet und kommentier­t. Allzu krasse Farben und allzu modischer und verlockend­er Schnitt gelten ja als Herausford­erung der Aufmerksam­keit der anderen in Form einer Ablenkung (was beim erwarteten Blick der Männer auf die Frauen eine Menge beiderseit­iger Folgen haben kann). Und also kleidet man sich mit den Jahren zunehmend unauffälli­ger oder gleichsam auf ganz andere Weise verlockend seriöser. Je älter die Damen sind – vorausgese­tzt, sie können es sich leisten –, desto prachtvoll­er kann der Schmuck sein, der die Blicke der anderen, ob Mann oder Frau, zugleich anlockt und ablenkt. Die Herren haben dagegen nicht viel anzubieten, es sei denn, sie werden immer mal wieder auf Fotos in den Zeitungen entdeckt. Alle übrigen haben, willig oder nicht, irgendwann akzeptiert, was nun einmal Sache ist, und das sieht man ihrem erwartungs­losen Blick meistens auch an.

Zu dieser Zeit fiel mir zum ersten Mal auf, dass der Komparativ des Adjektivs „alt“keineswegs die Steigerung des Positivs sein musste, sondern mindestens so eindeutig die Undeutlich­keit der Altersanga­be unterstütz­te: Die ältere Dame und der ältere Herr sind beide nicht älter als der/die alte, sondern eindeutig – wenn nicht zweideutig – jünger.

Die Tage kommen und gehen; ich bleibe. Noch.

JOCHEN JUNG

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