Schwächen, überraschend
Für eine halbe Sekunde jüngster Mensch auf Erden. Über die Leistung des
Als ich vor wirklich vielen Jahren auf diese Welt kam, war ich eine halbe Sekunde lang der jüngste Mensch auf Erden. Der Jüngste blieb ich für anderthalb Jahre in der näheren Umgebung meiner damaligen Familie, bis meine Schwester auf die Welt kam. Von da an war ich fast nur noch dann der Jüngste, wenn ich allein im Zimmer war. Aber sobald ich hinnahm, dass ich nie wieder so jung sein würde, wie ich es gerade noch gewesen war, begann ich zu akzeptieren, dass ich älter wurde, was ich, solange ich noch in den Zwanzigern und Dreißigern war, Jahr für Jahr durchaus auch als eine Art Leistung ansah, die sich auf eine angenehme und bequeme Weise ergab.
Irritierend wurde es allerdings, dass ich meine gelegentlichen körperlichen Schwächen nicht übersehen konnte, sei es beim Treppensteigen oder beim Koffertragen oder während der zweiten Flasche. Überraschend waren diese Schwächen allerdings eher für mich als für die anderen, die es offensichtlich völlig normal, ja geradezu schmeichelhaft fanden, wenn ich auf längeren gemeinsamen Märschen vor ihnen langsamer wurde und schließlich um eine kurze Rast bat.
Um die Zeit begann ich, wie so manch andere in derselben Situation, die unvermeidlichen Veränderungen (das Müdewerden, die Vergesslichkeit, die Begriffsstutzigkeit) vor mir selbst zu akzeptieren, indem ich sie, wo immer und wie immer das ging, hinnahm und zugleich so zu verbergen suchte, dass nicht einmal ich selbst es merkte.
Verlockend seriös
Die körperlichen Veränderungen, von den Falten bis zum grauen oder weißen Haar, wurden vom ständigen Wechsel der Kleidung begleitet und kommentiert. Allzu krasse Farben und allzu modischer und verlockender Schnitt gelten ja als Herausforderung der Aufmerksamkeit der anderen in Form einer Ablenkung (was beim erwarteten Blick der Männer auf die Frauen eine Menge beiderseitiger Folgen haben kann). Und also kleidet man sich mit den Jahren zunehmend unauffälliger oder gleichsam auf ganz andere Weise verlockend seriöser. Je älter die Damen sind – vorausgesetzt, sie können es sich leisten –, desto prachtvoller kann der Schmuck sein, der die Blicke der anderen, ob Mann oder Frau, zugleich anlockt und ablenkt. Die Herren haben dagegen nicht viel anzubieten, es sei denn, sie werden immer mal wieder auf Fotos in den Zeitungen entdeckt. Alle übrigen haben, willig oder nicht, irgendwann akzeptiert, was nun einmal Sache ist, und das sieht man ihrem erwartungslosen Blick meistens auch an.
Zu dieser Zeit fiel mir zum ersten Mal auf, dass der Komparativ des Adjektivs „alt“keineswegs die Steigerung des Positivs sein musste, sondern mindestens so eindeutig die Undeutlichkeit der Altersangabe unterstützte: Die ältere Dame und der ältere Herr sind beide nicht älter als der/die alte, sondern eindeutig – wenn nicht zweideutig – jünger.
Die Tage kommen und gehen; ich bleibe. Noch.
JOCHEN JUNG