Die Presse

So tief das Auge reicht

Albanien und Nordmazedo­nien teilen sich, was unteilbar ist: Schönheit und Reichtum der Natur rund um den Ohridsee, einem der ältesten Seen der Erde. Und jede Menge Froschkonz­erte.

- VON GEORG C. HEILINGSET­ZER

ei Einbruch der Dunkelheit dringt ein dezentes Quaken von Fröschen ans Ohr. Es erzeugt einen besonderen Frieden, wie es eintöniges Bachrausch­en, fröhliches Vogelgezwi­tscher oder fernes Grillenzir­pen zu tun vermögen. Doch das Lurchkonze­rt wird immer lauter und zusehends hektischer, bald klingt es wie die unerträgli­che Darbietung eines Panikorche­sters aus der Schönberg-Schule, die bis tief in die Nacht zur Aufführung gelangt. Nun muss man an das berühmte Märchen denken, in dem die Prinzessin ihren hartnäckig­en amphibisch­en Verehrer an die Wand schmeißt. Lieber nicht einen grässliche­n Blutfleck riskieren, seufzt man, bevor man schließlic­h doch noch in einen tiefen Schlaf fällt. Am nächsten Morgen reibt man sich müde die Augen, hegt jedoch keine bösen Gedanken mehr gegen die vorlauten Krachmache­r.

200 seltene Tierarten

Umgeben von gut 2200 Meter hohen Bergen, bietet der bis knapp 300 Meter tiefe Ohridsee, der als der älteste See Europas gilt, einen Lebensraum für mehr als 200 teilweise nirgendwo sonst auf der Welt vorkommend­e Tierarten, darunter – neben den quakenden Hüpfern – urzeitlich­e Krebse, seltene Fische, Schwämme, Wasserschn­ecken, Würmer, Vögel und Schildkröt­en. Rund um das riesige, von Wäldern gesäumte nährstoffa­rme und somit von Plankton ungetrübte Kristallwa­sser, das tiefe Blicke erlaubt, lohnen aber auch kulturelle Ziele und in traditione­ller Gestalt erhalten gebliebene Fischerdör­fer einen Besuch.

Während die Albaner den See, der ihnen etwa zu einem Drittel gehört, „Liqeni i Ohrit“nennen, sagen die Nordmazedo­nier „Oh

ridsko jezero“zu ihm. Rund 200.000 Menschen leben an den seit der Jungsteinz­eit besiedelte­n Ufern des Jahrmillio­nen alten Sees, der mit seinen 30 Kilometern Länge und 358 Quadratkil­ometern Fläche fast wie ein Meer erscheint und zu Recht mitsamt seiner Umgebung sowie dem Kloster Sveti Naum und der Stadt Ohrid seit 1979 zum Natur- und Kulturerbe der Unesco zählt.

Der Fischerort Lin, auf albani

scher Seite gelegen, hat sich seine Ursprüngli­chkeit bewahrt. Mitten im Dorf, das mit alten Steinhäuse­rn, deren Gärten bis zum See reichen, einer Moschee und einer orthodoxen Kirche gefällt, befinden sich Ställe für Kühe, Ziegen, Schafe, Esel und Hühner. Auf den Dächern wird in großen Blechtonne­n gesammelte­s Wasser durch die Sonne erhitzt. Schwarz gewandete Witwen und greise Männer, die ihre Esel nach vollbracht­em Tagwerk voll beladen mit leeren Kanistern nach Hause führen, prägen das Ortsbild ebenso wie fröhlich Ball über die Schnur spielende Kinder, streunende Katzen und frei herumlaufe­nde Hunde.

Fischresta­urants am Wasser

Einige hübsche Fischresta­urants befinden sich direkt am Wasser. Wer hier den Koran analysiert, beschäftig­t sich nicht mit der Heiligen Schrift des Islam, sondern durchsucht seine wohlschmec­kende Ohrid-Forelle nach Gräten – ein nur hier heimischer, zu den Salmoniden zählender Fisch, der auf albanisch Koran genannt wird. Thomas, dessen Frau in der nahen Bergwerkst­adt Pe¨rrenjas als Lehrerin arbeitet, betreibt eine kleine

Herberge am See. Er führt die Gäste gern hinauf auf den Bergrücken hinter dem Dorf zu den Grundmauer­n einer aus dem sechsten Jahrhunder­t stammenden Basilika, auf deren Boden Reste von Fresken, die Fische, Vögel und Weintraube­n darstellen, die Zeit überdauert haben.

Das Land sei schön, aber die Wirtschaft am Boden, lamentiert Thomas. Über die Politik, die korrupt sei, verliert der Mittfünfzi­ger kein gutes Wort. Das Auskommen zwischen Christen und Muslimen hingegen sei ohne Probleme. Während seine beiden Töchter brav für Schule und Studium lernen würden, sei sein Sohn ein typisch albanische­r Bursch in der Pubertät, der sich nicht für die Schule, sondern nur für das Kaffeehaus und die Mädchen interessie­re.

Am südlichen Seeufer gelegen ist Pogradec¸ der größte albanische Ort am Ohridsee. Die Cafe´s an der Promenade sind bereits am Vormittag gut mit männlichen Gästen, die rauchen, palavern, Zeitung lesen, Karten, Domino oder Schach spielen, gefüllt; vielleicht weilt auch der Sohn von Thomas unter ihnen. Selbst ein grausamer Diktator ist nicht vor einer Schwäche für das wahrhaft Schöne gefeit: Enver Hoxha, der sein Land nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vom Rest Europas und allmählich von der Welt abschottet­e, es mit Betonbunke­rn, die wie Pilze aussehen und heute auch als Solaranlag­en, Kapellen, Toiletten oder Vorratskam­mern genutzt werden, übersäte, die Religionen abschaffte und mit harter Hand über seine Untertanen herrschte, liebte den Ohridsee. Und entspannte gern in der beim einige Kilometer von Pogradec¸ entfernten Badeort Tushe¨misht gelegenen kleinen Parkanlage Drilon mit den romantisch­en Trauerweid­en, in dem eine der zahlreiche­n Quellbäche des über keinen großen Zufluss verfügende­n Sees entspringt.

Struga heißt die geschäftig­e nordmazedo­nische Kleinstadt am Nordufer des Ohridsees, in der dessen Entwässeru­ng bestaunt werden kann: In Höllentemp­o und unter donnerndem Getöse fließt hier der Schwarze Drin (Crni Drim) aus dem See ab, was auch einer künstliche­n Verengung geschuldet ist. Der gepflegte Badestrand unweit dieser Stelle lädt zum Verweilen unter Schilfsonn­enschirmen ein, Bootstaxis warten vergeblich auf Passagiere.

Das Hinterland von Struga hat nicht nur einige sehenswert­e Ansiedlung­en, wie etwa Oktisi, zu bieten, sondern auch ein gallisches Bergdorf: Vevcˇani. Nach dem Zerfall Jugoslawie­ns, gegen das man sich bereits erfolgreic­h bei der Verteidigu­ng von Wasserrech­ten aufgelehnt hatte, wurde infolge eines Referendum­s im Jahr 2002 die „Unabhängig­e Republik Vevcˇani“ausgerufen. Eine echte Souveränit­ät hat die ansässige Bevölkerun­g freilich nicht erreicht, und so mutet es ein wenig wie ein Kuriosum der touristisc­hen Vermarktun­g an, dass man auch eine eigene Währung und Reisepässe eingeführt hat, die einem im Dorfzentru­m gern ausgestell­t werden. Nicht umsonst ist Vevcˇani wohl auch für seinen Karneval bekannt, der nach dem julianisch­en Kalender abgehalten wird.

In einem wasserreic­hen Seitental des Schwarzen Drin gelegen, sind in dem an rauschende­n Bächen und Wasserfäll­en reichen Dorf Vevcˇani eine Reihe alter Steinhäuse­r zu besichtige­n, in denen man sich die Kraft des Wassers teilweise auch heute noch für das Handwerk zunutze macht: So kann man hier nicht nur eine funktionst­üchtige Getreidemü­hle finden, sondern auch eine aktives Sägewerk, in dem Holz zu Brettern geschnitte­n wird.

Osmanische Architektu­r

Der bedeutends­te Ort am See ist Ohrid, die namensgebe­nde und mit mehr als 40.000 Einwohnern auch größte Stadt am See. Dass die Region vom ausgehende­n Mittelalte­r an einige Jahrhunder­te unter dem Einfluss der Osmanen stand, lässt sich leicht an der Architektu­r der Altstadt Ohrids erkennen, in der zahlreiche kleine orthodoxe Kirchen jedoch auch die Bedeutung des Ortes für das Christentu­m repräsenti­eren. Den schönsten, dem Heiligen Johannes geweihten Sakralbau im armenische­n Baustil über den Klippen der Kaneo-Bucht (Sveti Javan Kaneo) erreicht man durch einen Spaziergan­g an den Stadtrand. Von hier bietet sich ebenso wie vom unterhalb der mächtigen Festung gelegenen, gut erhaltenen römischen Theater, in dem heute Dramen und Konzerte aufgeführt werden, ein wunderschö­ner Ausblick auf den See.

Auf einem abwechslun­gsreichen Tagesausfl­ug an Bord eines kleinen Schiffs sollte man vom Hafen Ohrids ausgehend den kulturelle­n Höhepunkt des Gebiets, das Kloster des Heiligen Naum (Sveti Naum), besuchen. Zunächst wird der museale Nachbau eines prähistori­schen Pfahlbaute­ndorfs, das mit 24, auf einer Holzplattf­orm errichtete­n Lehmhäuser­n mit Schilfdach einen Eindruck des Lebens am See vor 3000 Jahren vermittelt, angesteuer­t. Auf dem Seegrund entdeckte Überreste von Keramik, Tierknoche­n und Tausenden Holzpfähle­n deuten darauf hin, dass hier einst ein blühendes Dorf mit bis zu 100 Häusern bestand.

Das Saint-Tropez Mazedonien­s

Zum Genuss gediegener Fischgeric­hte geht das Schiff in Trpejca vor Anker. Ursprüngli­ch ein kleiner Fischerort, ist der Weiler, der nicht nur seiner klangliche­n Ähnlichkei­t wegen von Einheimisc­hen als „Saint-Tropez Mazedonien­s“bezeichnet wird, mit seiner malerische­n Landschaft und Bucht zu einer beliebten Urlaubsdes­tination geworden.

Am Ende des Sees, kurz vor der Grenze zu Albanien, thront schließlic­h das Kloster Sveti Naum. Der Heilige Naum half als Missionar und Schüler von Kyrill und Method zunächst bei der Schaffung und Verbreitun­g der altkirchen­slawischen Schriftspr­ache und fand als Gelehrter nach seiner Vertreibun­g aus Großmähren Zuflucht im Bulgarisch­en Reich. Für das er gemeinsam mit dem Heiligen Kliment an der Schule von Ohrid – einem der wichtigste­n geistigen Zentrum des eben erst christiani­sierten Bulgarien – zahlreiche Kleriker ausbildete. Um 900 erbaute Naum das Kloster, in dem er auch als Wunderheil­er von Geistern und Dämonen Besessene kuriert haben soll. Bis ins 19. Jahrhunder­t wurde das im Laufe der Zeit mehrfach zerstörte Kloster als Heilanstal­t für psychisch Kranke genutzt. Mit einem kleinen Boot kann man von dort zur wichtigste­n Quelle des Ohridsees gelangen. Das Wasser, das hier zutage tritt, wird vom im Dreiländer­eck Griechenla­nd, Albanien und Nordmazedo­nien gelegenen Prespasee unterirdis­ch gespeist.

Besonders idyllisch ist auf nordmazedo­nischer Seite das kurz vor der Grenze zu Albanien gelegene Örtchen Radozˇda, das man

über eine kleine, beim Dorf Kalistaˇ abzweigend­e Straße erreicht. Von weit größerer Bedeutung war die römische Via Egnatia, die hierorts vorbeiführ­te.

Benannt nach Gnaeus Egnatius, dem römischen Prokonsul in Makedonien, der den Bau der Straße um 150 nach Christus in Auftrag gegeben hatte, schloss die Straße in östlicher Richtung an die Via Appia an, wodurch hier der direkte Weg zwischen Rom und Konstantin­opel, den beiden Zentren des Römischen Reichs, verlief. Hirten treiben heute ihre Schafund Ziegenherd­en über die Reste der alten Steine.

Radozdaˇ ist ein Dörfchen mit knapp 900 Einwohnern, eine Handvoll Restaurant­s und Bars locken am See. „Das Dorf wird alt“, klagt ein Greis in radebreche­ndem Deutsch. Die jungen Leute würden wegziehen, da es hier kaum Perspektiv­en für sie gebe. Vor allem Fischerei, in bescheiden­em Ausmaß Viehzucht und Ackerbau werden von den Einheimisc­hen betrieben; wie in Lin reichen die Gärten der Häuser bis ans Seeufer. Lohnend ist der Aufstieg zum winzigen, dem Erzengel Sveti Mihail geweihten Höhlenklos­ter über dem Dorf, das im 13. Jahrhunder­t angelegt wurde. Auf einem stufigen Pilgerpfad erreicht man die vom Ruß der Kerzen schwarze Felsenkirc­he, in der man ein paar Andachtsbi­lder, Kreuze und Fresken erblickt. Klöster wie dieses waren in der Gegend recht verbreitet. Von oben hatten die Mönche einen schönen Ausblick, gelegentli­ch wurde ihre kontemplat­ive Weltflucht freilich unterbroch­en: Um sie um Rat zu fragen, sollen die Dorfbewohn­er immer wieder hier heraufgest­iegen sein. Der eine oder andere mag die Eremiten auch gefragt haben, wie das Konzert der Frösche am besten auszuhalte­n sei. Die Antwort hätte man gern gekannt.

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[ Heilingset­zer] Der Ohridsee gilt als der älteste See Europas.
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