So tief das Auge reicht
Albanien und Nordmazedonien teilen sich, was unteilbar ist: Schönheit und Reichtum der Natur rund um den Ohridsee, einem der ältesten Seen der Erde. Und jede Menge Froschkonzerte.
ei Einbruch der Dunkelheit dringt ein dezentes Quaken von Fröschen ans Ohr. Es erzeugt einen besonderen Frieden, wie es eintöniges Bachrauschen, fröhliches Vogelgezwitscher oder fernes Grillenzirpen zu tun vermögen. Doch das Lurchkonzert wird immer lauter und zusehends hektischer, bald klingt es wie die unerträgliche Darbietung eines Panikorchesters aus der Schönberg-Schule, die bis tief in die Nacht zur Aufführung gelangt. Nun muss man an das berühmte Märchen denken, in dem die Prinzessin ihren hartnäckigen amphibischen Verehrer an die Wand schmeißt. Lieber nicht einen grässlichen Blutfleck riskieren, seufzt man, bevor man schließlich doch noch in einen tiefen Schlaf fällt. Am nächsten Morgen reibt man sich müde die Augen, hegt jedoch keine bösen Gedanken mehr gegen die vorlauten Krachmacher.
200 seltene Tierarten
Umgeben von gut 2200 Meter hohen Bergen, bietet der bis knapp 300 Meter tiefe Ohridsee, der als der älteste See Europas gilt, einen Lebensraum für mehr als 200 teilweise nirgendwo sonst auf der Welt vorkommende Tierarten, darunter – neben den quakenden Hüpfern – urzeitliche Krebse, seltene Fische, Schwämme, Wasserschnecken, Würmer, Vögel und Schildkröten. Rund um das riesige, von Wäldern gesäumte nährstoffarme und somit von Plankton ungetrübte Kristallwasser, das tiefe Blicke erlaubt, lohnen aber auch kulturelle Ziele und in traditioneller Gestalt erhalten gebliebene Fischerdörfer einen Besuch.
Während die Albaner den See, der ihnen etwa zu einem Drittel gehört, „Liqeni i Ohrit“nennen, sagen die Nordmazedonier „Oh
ridsko jezero“zu ihm. Rund 200.000 Menschen leben an den seit der Jungsteinzeit besiedelten Ufern des Jahrmillionen alten Sees, der mit seinen 30 Kilometern Länge und 358 Quadratkilometern Fläche fast wie ein Meer erscheint und zu Recht mitsamt seiner Umgebung sowie dem Kloster Sveti Naum und der Stadt Ohrid seit 1979 zum Natur- und Kulturerbe der Unesco zählt.
Der Fischerort Lin, auf albani
scher Seite gelegen, hat sich seine Ursprünglichkeit bewahrt. Mitten im Dorf, das mit alten Steinhäusern, deren Gärten bis zum See reichen, einer Moschee und einer orthodoxen Kirche gefällt, befinden sich Ställe für Kühe, Ziegen, Schafe, Esel und Hühner. Auf den Dächern wird in großen Blechtonnen gesammeltes Wasser durch die Sonne erhitzt. Schwarz gewandete Witwen und greise Männer, die ihre Esel nach vollbrachtem Tagwerk voll beladen mit leeren Kanistern nach Hause führen, prägen das Ortsbild ebenso wie fröhlich Ball über die Schnur spielende Kinder, streunende Katzen und frei herumlaufende Hunde.
Fischrestaurants am Wasser
Einige hübsche Fischrestaurants befinden sich direkt am Wasser. Wer hier den Koran analysiert, beschäftigt sich nicht mit der Heiligen Schrift des Islam, sondern durchsucht seine wohlschmeckende Ohrid-Forelle nach Gräten – ein nur hier heimischer, zu den Salmoniden zählender Fisch, der auf albanisch Koran genannt wird. Thomas, dessen Frau in der nahen Bergwerkstadt Pe¨rrenjas als Lehrerin arbeitet, betreibt eine kleine
Herberge am See. Er führt die Gäste gern hinauf auf den Bergrücken hinter dem Dorf zu den Grundmauern einer aus dem sechsten Jahrhundert stammenden Basilika, auf deren Boden Reste von Fresken, die Fische, Vögel und Weintrauben darstellen, die Zeit überdauert haben.
Das Land sei schön, aber die Wirtschaft am Boden, lamentiert Thomas. Über die Politik, die korrupt sei, verliert der Mittfünfziger kein gutes Wort. Das Auskommen zwischen Christen und Muslimen hingegen sei ohne Probleme. Während seine beiden Töchter brav für Schule und Studium lernen würden, sei sein Sohn ein typisch albanischer Bursch in der Pubertät, der sich nicht für die Schule, sondern nur für das Kaffeehaus und die Mädchen interessiere.
Am südlichen Seeufer gelegen ist Pogradec¸ der größte albanische Ort am Ohridsee. Die Cafe´s an der Promenade sind bereits am Vormittag gut mit männlichen Gästen, die rauchen, palavern, Zeitung lesen, Karten, Domino oder Schach spielen, gefüllt; vielleicht weilt auch der Sohn von Thomas unter ihnen. Selbst ein grausamer Diktator ist nicht vor einer Schwäche für das wahrhaft Schöne gefeit: Enver Hoxha, der sein Land nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vom Rest Europas und allmählich von der Welt abschottete, es mit Betonbunkern, die wie Pilze aussehen und heute auch als Solaranlagen, Kapellen, Toiletten oder Vorratskammern genutzt werden, übersäte, die Religionen abschaffte und mit harter Hand über seine Untertanen herrschte, liebte den Ohridsee. Und entspannte gern in der beim einige Kilometer von Pogradec¸ entfernten Badeort Tushe¨misht gelegenen kleinen Parkanlage Drilon mit den romantischen Trauerweiden, in dem eine der zahlreichen Quellbäche des über keinen großen Zufluss verfügenden Sees entspringt.
Struga heißt die geschäftige nordmazedonische Kleinstadt am Nordufer des Ohridsees, in der dessen Entwässerung bestaunt werden kann: In Höllentempo und unter donnerndem Getöse fließt hier der Schwarze Drin (Crni Drim) aus dem See ab, was auch einer künstlichen Verengung geschuldet ist. Der gepflegte Badestrand unweit dieser Stelle lädt zum Verweilen unter Schilfsonnenschirmen ein, Bootstaxis warten vergeblich auf Passagiere.
Das Hinterland von Struga hat nicht nur einige sehenswerte Ansiedlungen, wie etwa Oktisi, zu bieten, sondern auch ein gallisches Bergdorf: Vevcˇani. Nach dem Zerfall Jugoslawiens, gegen das man sich bereits erfolgreich bei der Verteidigung von Wasserrechten aufgelehnt hatte, wurde infolge eines Referendums im Jahr 2002 die „Unabhängige Republik Vevcˇani“ausgerufen. Eine echte Souveränität hat die ansässige Bevölkerung freilich nicht erreicht, und so mutet es ein wenig wie ein Kuriosum der touristischen Vermarktung an, dass man auch eine eigene Währung und Reisepässe eingeführt hat, die einem im Dorfzentrum gern ausgestellt werden. Nicht umsonst ist Vevcˇani wohl auch für seinen Karneval bekannt, der nach dem julianischen Kalender abgehalten wird.
In einem wasserreichen Seitental des Schwarzen Drin gelegen, sind in dem an rauschenden Bächen und Wasserfällen reichen Dorf Vevcˇani eine Reihe alter Steinhäuser zu besichtigen, in denen man sich die Kraft des Wassers teilweise auch heute noch für das Handwerk zunutze macht: So kann man hier nicht nur eine funktionstüchtige Getreidemühle finden, sondern auch eine aktives Sägewerk, in dem Holz zu Brettern geschnitten wird.
Osmanische Architektur
Der bedeutendste Ort am See ist Ohrid, die namensgebende und mit mehr als 40.000 Einwohnern auch größte Stadt am See. Dass die Region vom ausgehenden Mittelalter an einige Jahrhunderte unter dem Einfluss der Osmanen stand, lässt sich leicht an der Architektur der Altstadt Ohrids erkennen, in der zahlreiche kleine orthodoxe Kirchen jedoch auch die Bedeutung des Ortes für das Christentum repräsentieren. Den schönsten, dem Heiligen Johannes geweihten Sakralbau im armenischen Baustil über den Klippen der Kaneo-Bucht (Sveti Javan Kaneo) erreicht man durch einen Spaziergang an den Stadtrand. Von hier bietet sich ebenso wie vom unterhalb der mächtigen Festung gelegenen, gut erhaltenen römischen Theater, in dem heute Dramen und Konzerte aufgeführt werden, ein wunderschöner Ausblick auf den See.
Auf einem abwechslungsreichen Tagesausflug an Bord eines kleinen Schiffs sollte man vom Hafen Ohrids ausgehend den kulturellen Höhepunkt des Gebiets, das Kloster des Heiligen Naum (Sveti Naum), besuchen. Zunächst wird der museale Nachbau eines prähistorischen Pfahlbautendorfs, das mit 24, auf einer Holzplattform errichteten Lehmhäusern mit Schilfdach einen Eindruck des Lebens am See vor 3000 Jahren vermittelt, angesteuert. Auf dem Seegrund entdeckte Überreste von Keramik, Tierknochen und Tausenden Holzpfählen deuten darauf hin, dass hier einst ein blühendes Dorf mit bis zu 100 Häusern bestand.
Das Saint-Tropez Mazedoniens
Zum Genuss gediegener Fischgerichte geht das Schiff in Trpejca vor Anker. Ursprünglich ein kleiner Fischerort, ist der Weiler, der nicht nur seiner klanglichen Ähnlichkeit wegen von Einheimischen als „Saint-Tropez Mazedoniens“bezeichnet wird, mit seiner malerischen Landschaft und Bucht zu einer beliebten Urlaubsdestination geworden.
Am Ende des Sees, kurz vor der Grenze zu Albanien, thront schließlich das Kloster Sveti Naum. Der Heilige Naum half als Missionar und Schüler von Kyrill und Method zunächst bei der Schaffung und Verbreitung der altkirchenslawischen Schriftsprache und fand als Gelehrter nach seiner Vertreibung aus Großmähren Zuflucht im Bulgarischen Reich. Für das er gemeinsam mit dem Heiligen Kliment an der Schule von Ohrid – einem der wichtigsten geistigen Zentrum des eben erst christianisierten Bulgarien – zahlreiche Kleriker ausbildete. Um 900 erbaute Naum das Kloster, in dem er auch als Wunderheiler von Geistern und Dämonen Besessene kuriert haben soll. Bis ins 19. Jahrhundert wurde das im Laufe der Zeit mehrfach zerstörte Kloster als Heilanstalt für psychisch Kranke genutzt. Mit einem kleinen Boot kann man von dort zur wichtigsten Quelle des Ohridsees gelangen. Das Wasser, das hier zutage tritt, wird vom im Dreiländereck Griechenland, Albanien und Nordmazedonien gelegenen Prespasee unterirdisch gespeist.
Besonders idyllisch ist auf nordmazedonischer Seite das kurz vor der Grenze zu Albanien gelegene Örtchen Radozˇda, das man
über eine kleine, beim Dorf Kalistaˇ abzweigende Straße erreicht. Von weit größerer Bedeutung war die römische Via Egnatia, die hierorts vorbeiführte.
Benannt nach Gnaeus Egnatius, dem römischen Prokonsul in Makedonien, der den Bau der Straße um 150 nach Christus in Auftrag gegeben hatte, schloss die Straße in östlicher Richtung an die Via Appia an, wodurch hier der direkte Weg zwischen Rom und Konstantinopel, den beiden Zentren des Römischen Reichs, verlief. Hirten treiben heute ihre Schafund Ziegenherden über die Reste der alten Steine.
Radozdaˇ ist ein Dörfchen mit knapp 900 Einwohnern, eine Handvoll Restaurants und Bars locken am See. „Das Dorf wird alt“, klagt ein Greis in radebrechendem Deutsch. Die jungen Leute würden wegziehen, da es hier kaum Perspektiven für sie gebe. Vor allem Fischerei, in bescheidenem Ausmaß Viehzucht und Ackerbau werden von den Einheimischen betrieben; wie in Lin reichen die Gärten der Häuser bis ans Seeufer. Lohnend ist der Aufstieg zum winzigen, dem Erzengel Sveti Mihail geweihten Höhlenkloster über dem Dorf, das im 13. Jahrhundert angelegt wurde. Auf einem stufigen Pilgerpfad erreicht man die vom Ruß der Kerzen schwarze Felsenkirche, in der man ein paar Andachtsbilder, Kreuze und Fresken erblickt. Klöster wie dieses waren in der Gegend recht verbreitet. Von oben hatten die Mönche einen schönen Ausblick, gelegentlich wurde ihre kontemplative Weltflucht freilich unterbrochen: Um sie um Rat zu fragen, sollen die Dorfbewohner immer wieder hier heraufgestiegen sein. Der eine oder andere mag die Eremiten auch gefragt haben, wie das Konzert der Frösche am besten auszuhalten sei. Die Antwort hätte man gern gekannt.