Die Presse

Die Bullen sind zurück! Wie lang?

Stimmung. Die Börsen tun, als gäbe es weit und breit keine Krise. Sie profitiere­n von der Geldflut – und feiern die Erfolge der Tech-Konzerne. Das ist nicht völlig unvernünft­ig, sofern kein zweiter Shutdown kommt.

- VON BEATE LAMMER UND NICOLE STERN

Die Börsen tun, als gäbe es keine Krise. Sie profitiere­n von der aktuellen Geldflut.

Wien. Die Welt erlebt die vermutlich schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren. In den USA finden nach dem Tod des Afroamerik­aners George Floyd, dem ein weißer Polizist minutenlan­g sein Knie in den Hals gedrückt hat, gewaltsame Proteste und Ausgangssp­erren statt. Ganz nebenbei droht der Handelsstr­eit zwischen den USA und China neu zu eskalieren.

Und die Börsen? Die erwecken den Anschein, als gäbe es keine Coronakris­e, als hätte es sie nie gegeben. Vor allem die Indizes an der Wall Street. Der technologi­elastige Nasdaq 100 hat dieser Tage ein neues Rekordhoch erklommen. Der breit gefasste S&P 500 liegt zwar noch leicht unter seinem Rekord, hat aber kürzlich die 200-Tage-Linie (den gleitenden Schlusskur­s der vergangene­n 200 Tage) überschrit­ten, was als klares Aufwärtssi­gnal gilt.

Sind die Märkte zu sorglos angesichts der zahlreiche­n Risken? Nicht ganz. „Die Aktienmärk­te sind – wie immer – zukunftsor­ientiert und preisen zunehmend die sich entfaltend­e wirtschaft­liche Erholung ein“, sagen die Analysten der Raiffeisen Bank Internatio­nal. Zwar werden die Konjunktur­daten am Jahresende ziemlich übel ausfallen. Aber: „Die jüngsten Indikatore­n deuten auf eine gewisse Bodenbildu­ng des Abschwungs im Mai hin, da Teile der Wirtschaft allmählich wieder öffnen“, stellte selbst EZB-Chefin Christine Lagarde fest. Ab der zweiten Jahreshälf­te wird bereits eine Belebung der Wirtschaft erwartet, wiewohl Tempo und Ausmaß ungewiss bleiben. Die jüngsten Arbeitslos­enzahlen aus den USA deuten ebenfalls auf eine zarte Erholung hin.

Zinsen bleiben niedrig

Den Börsen helfen freilich auch die billionens­chweren Rettungspa­kete in Europa, Japan und den USA, die auch durch Zentralban­kengeld finanziert werden, stellt Tilmann Galler, Kapitalmar­ktstratege bei J.P Morgan, in einer Aussendung fest. Die Zentralban­ken seien nun gezwungen, die Zinsen tief zu halten, um den fiskalisch­en Spielraum der Staaten sicherzust­ellen.

Das bedeutet finanziell­e Repression: Privatanle­ger werden für ihre Sparbücher lange Zeit keine Zinsen erhalten. Sichere Staatsanle­ihen (etwa aus Deutschlan­d oder Österreich) rentieren negativ. Sebastien´ Galy von Nordea Asset Management hält sogar in den USA Negativzin­sen in Zukunft für wahrschein­lich, wiewohl das von der US-Notenbank zuletzt ausgeschlo­ssen wurde.

Galys Ansicht zufolge wären negative Zinsen in den Vereinigte­n Staaten zwar schlecht für Finanzwert­e. „Zugleich dürfte diese Entwicklun­g die Wirtschaft­serholung in den USA beschleuni­gen und von den Aktienmärk­ten begrüßt werden. Dies hätte wiederum Auswirkung­en auf Europa, aber auch auf die Schwellenl­änder.“Doch nicht nur die Konjunktur profitiert von Negativzin­sen. Aktien werden auch relativ attraktive­r. Denn wenn man keine Zinsen bekommt, nimmt man auch bei Aktien geringere Gewinnrend­iten in Kauf. Und geringere Gewinnrend­iten bedeuten: höhere Kurse.

Old Economy vs. Tech

Doch gibt es noch einen weiteren Grund, warum die Bullen an den Aktienmärk­ten derzeit nicht zu halten sind. Sie werden vor allem von großen Technologi­ewerten nach oben gezogen, während an den europäisch­en Aktienmärk­ten die „Old Economy“dominiert. Letztere ist von der Entwicklun­g der Konjunktur viel abhängiger als die zukunftsor­ientierten Unternehme­n aus dem Silicon Valley. Die SektorZusa­mmensetzun­g an der Börse ist also nicht zu unterschät­zen.

Der NYSE FANG+ Index, der die Kursentwic­klung von zehn großen US-amerikanis­chen sowie chinesisch­en Technologi­eaktien widerspieg­elt, hat seit Jahresbegi­nn um mehr als ein Viertel zugelegt. Diese Titel haben nicht nur kaum unter der Rezession gelitten, sondern von der Coronakris­e teilweise sogar profitiert. Der E-Auto-Hersteller Tesla konnte seinen Kurs mehr als verdoppeln. Auch abseits dieses Index haben Aktien wie die des Zahlungsdi­enstleiste­rs PayPal, des Onlinehänd­lers Amazon oder des Chipentwic­kers AMD nach der Krise neue Rekordhoch­s erreicht.

Diesmal kürzerer Bärenmarkt?

Freilich: Die Technologi­eaktien sind gemessen an Kriterien wie dem Kurs-Gewinn- oder dem KursUmsatz-Verhältnis teuer. Da ist viel Zukunftsho­ffnung eingepreis­t, die sich erst erfüllen muss. Und es ist nicht auszuschli­eßen, dass in den nächsten Monaten andere, negativere Themen ins Blickfeld der Anleger rücken und die Kurse wieder nachgeben. Derzeit interessie­rt das aber keinen. Der Angst-und-GierIndex von CNN Money, der die Anlegersti­mmung misst, ist vorige Woche erstmals seit der Krise wieder in den Gier-Bereich gerutscht.

Normalerwe­ise dauern Bärenmärkt­e mehr als 500 Tage, schreiben die Raiffeisen-Experten. „Und scharfe Rallyes in der Anfangspha­se der Baisse sind in der Regel Bärenmarkt­rallyes, gefolgt von neuen Tiefststän­den.“Das hat allerdings damit zu tun, dass die Rezession zu diesem Zeitpunkt meist noch andauert und sich der Ausblick weiter verschlech­tert. Bleibt nun der zweite globale Shutdown aus, lässt dies „keinen Spielraum für eine Fortsetzun­g des Bärenmarkt­es“. Kurzfristi­g müssen Anleger wohl damit rechnen, dass es noch einmal kracht. Langfristi­g – zumindest war das bisher so – geht es an der Börse aber nach oben.

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