Die Bullen sind zurück! Wie lang?
Stimmung. Die Börsen tun, als gäbe es weit und breit keine Krise. Sie profitieren von der Geldflut – und feiern die Erfolge der Tech-Konzerne. Das ist nicht völlig unvernünftig, sofern kein zweiter Shutdown kommt.
Die Börsen tun, als gäbe es keine Krise. Sie profitieren von der aktuellen Geldflut.
Wien. Die Welt erlebt die vermutlich schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren. In den USA finden nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd, dem ein weißer Polizist minutenlang sein Knie in den Hals gedrückt hat, gewaltsame Proteste und Ausgangssperren statt. Ganz nebenbei droht der Handelsstreit zwischen den USA und China neu zu eskalieren.
Und die Börsen? Die erwecken den Anschein, als gäbe es keine Coronakrise, als hätte es sie nie gegeben. Vor allem die Indizes an der Wall Street. Der technologielastige Nasdaq 100 hat dieser Tage ein neues Rekordhoch erklommen. Der breit gefasste S&P 500 liegt zwar noch leicht unter seinem Rekord, hat aber kürzlich die 200-Tage-Linie (den gleitenden Schlusskurs der vergangenen 200 Tage) überschritten, was als klares Aufwärtssignal gilt.
Sind die Märkte zu sorglos angesichts der zahlreichen Risken? Nicht ganz. „Die Aktienmärkte sind – wie immer – zukunftsorientiert und preisen zunehmend die sich entfaltende wirtschaftliche Erholung ein“, sagen die Analysten der Raiffeisen Bank International. Zwar werden die Konjunkturdaten am Jahresende ziemlich übel ausfallen. Aber: „Die jüngsten Indikatoren deuten auf eine gewisse Bodenbildung des Abschwungs im Mai hin, da Teile der Wirtschaft allmählich wieder öffnen“, stellte selbst EZB-Chefin Christine Lagarde fest. Ab der zweiten Jahreshälfte wird bereits eine Belebung der Wirtschaft erwartet, wiewohl Tempo und Ausmaß ungewiss bleiben. Die jüngsten Arbeitslosenzahlen aus den USA deuten ebenfalls auf eine zarte Erholung hin.
Zinsen bleiben niedrig
Den Börsen helfen freilich auch die billionenschweren Rettungspakete in Europa, Japan und den USA, die auch durch Zentralbankengeld finanziert werden, stellt Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P Morgan, in einer Aussendung fest. Die Zentralbanken seien nun gezwungen, die Zinsen tief zu halten, um den fiskalischen Spielraum der Staaten sicherzustellen.
Das bedeutet finanzielle Repression: Privatanleger werden für ihre Sparbücher lange Zeit keine Zinsen erhalten. Sichere Staatsanleihen (etwa aus Deutschland oder Österreich) rentieren negativ. Sebastien´ Galy von Nordea Asset Management hält sogar in den USA Negativzinsen in Zukunft für wahrscheinlich, wiewohl das von der US-Notenbank zuletzt ausgeschlossen wurde.
Galys Ansicht zufolge wären negative Zinsen in den Vereinigten Staaten zwar schlecht für Finanzwerte. „Zugleich dürfte diese Entwicklung die Wirtschaftserholung in den USA beschleunigen und von den Aktienmärkten begrüßt werden. Dies hätte wiederum Auswirkungen auf Europa, aber auch auf die Schwellenländer.“Doch nicht nur die Konjunktur profitiert von Negativzinsen. Aktien werden auch relativ attraktiver. Denn wenn man keine Zinsen bekommt, nimmt man auch bei Aktien geringere Gewinnrenditen in Kauf. Und geringere Gewinnrenditen bedeuten: höhere Kurse.
Old Economy vs. Tech
Doch gibt es noch einen weiteren Grund, warum die Bullen an den Aktienmärkten derzeit nicht zu halten sind. Sie werden vor allem von großen Technologiewerten nach oben gezogen, während an den europäischen Aktienmärkten die „Old Economy“dominiert. Letztere ist von der Entwicklung der Konjunktur viel abhängiger als die zukunftsorientierten Unternehmen aus dem Silicon Valley. Die SektorZusammensetzung an der Börse ist also nicht zu unterschätzen.
Der NYSE FANG+ Index, der die Kursentwicklung von zehn großen US-amerikanischen sowie chinesischen Technologieaktien widerspiegelt, hat seit Jahresbeginn um mehr als ein Viertel zugelegt. Diese Titel haben nicht nur kaum unter der Rezession gelitten, sondern von der Coronakrise teilweise sogar profitiert. Der E-Auto-Hersteller Tesla konnte seinen Kurs mehr als verdoppeln. Auch abseits dieses Index haben Aktien wie die des Zahlungsdienstleisters PayPal, des Onlinehändlers Amazon oder des Chipentwickers AMD nach der Krise neue Rekordhochs erreicht.
Diesmal kürzerer Bärenmarkt?
Freilich: Die Technologieaktien sind gemessen an Kriterien wie dem Kurs-Gewinn- oder dem KursUmsatz-Verhältnis teuer. Da ist viel Zukunftshoffnung eingepreist, die sich erst erfüllen muss. Und es ist nicht auszuschließen, dass in den nächsten Monaten andere, negativere Themen ins Blickfeld der Anleger rücken und die Kurse wieder nachgeben. Derzeit interessiert das aber keinen. Der Angst-und-GierIndex von CNN Money, der die Anlegerstimmung misst, ist vorige Woche erstmals seit der Krise wieder in den Gier-Bereich gerutscht.
Normalerweise dauern Bärenmärkte mehr als 500 Tage, schreiben die Raiffeisen-Experten. „Und scharfe Rallyes in der Anfangsphase der Baisse sind in der Regel Bärenmarktrallyes, gefolgt von neuen Tiefstständen.“Das hat allerdings damit zu tun, dass die Rezession zu diesem Zeitpunkt meist noch andauert und sich der Ausblick weiter verschlechtert. Bleibt nun der zweite globale Shutdown aus, lässt dies „keinen Spielraum für eine Fortsetzung des Bärenmarktes“. Kurzfristig müssen Anleger wohl damit rechnen, dass es noch einmal kracht. Langfristig – zumindest war das bisher so – geht es an der Börse aber nach oben.