Im Auftrag der „Prawda“durch die USA
Literatur. Ilja Ilf und Jewgeni Petrow bereisten in den 1930er-Jahren „Das eingeschossige Amerika“. Sie fuhren mit dem Wagen von New York bis Kalifornien und retour. Ihre Aufzeichnungen einer Zeit des Aufbaus wurden zu einem Bestseller.
Noch ist es wegen der Corona-Pandemie viel zu aufwendig, einen triftigen Grund dafür zu suchen, die USA extensiv zu bereisen. Also gilt auch in diesem Fall: Eine virtuelle Tour mit einem Klassiker der Literatur soll ein Ersatz sein. Aber welcher? Das Angebot ist fast so riesig wie die Neue Welt. Man könnte sich mit Lewis und Clark 1804/6 auf den Weg machen, die einst im Auftrag Präsident Jeffersons unerschlossene Gebiete bis an die Pazifikküste erkundeten. Oder mit Jack Kerouacs Hipstern vor 63 Jahren im Roman „On the Road“.
Aber passt das denn zur Krise von heute? Nein, am besten wählen wir einen fremden Blick auf Amerika: Von Oktober 1935 bis Februar 1936 bereisten zwei Sowjet-Autoren im Auftrag der kommunistischen Parteizeitung „Prawda“(der „Wahrheit“) die USA.
Ilja Ilf und Jewgeni Petrow waren Kabarettisten, die auch mit satirischen Romanen berühmt wurden. Ihr ironischer Blick macht die Tour von der Ost- zur Westküste und via den Süden wieder zurück zu einem frischen Erlebnis. Eine Weltwirtschaftskrise war zu bewältigen. Präsident F. D. Roosevelts New Deal begann erst zaghaft zu greifen. Die beiden Reporter sahen rastlosen Aufbau, zwar kritisch, jedoch auch mit Bewunderung.
Drinks mit Hemingway, Besuch bei Ford
Was also fiel ihnen auf, nachdem sie auf der „Normandie“im Hafen von New York eintrafen? Gastfreundschaft: „Sie ist grenzenlos und stellt alles andere auf diesem Gebiet, auch die russische, sibirische oder georgische, in den Schatten.“Bei jeder Cocktailparty werde man von zehn Freunden des Gastgebers zu weiteren Partys eingeladen.
Die Kost behagt ihnen allerdings weniger: „Die Amerikaner essen schneeweißes Brot ohne jeden Geschmack, Gefrierfleisch, gesalzene Butter, Konserven und unreife Tomaten.“Wie sei es gekommen, dass das reichste Land der Welt „nicht in der Lage ist, sein Volk mit schmackhaftem Brot, frischem Fleisch und Butter oder reifen Tomaten zu versorgen?“Schuld daran seien Monopole.
Ilf und Petrow gehen ins Kino, in eine Strip-Show, zum Boxen im Madison Square Garden und einem Autorennen in Danbury. Mit Hemingway („hochgewachsener Mann mit Schnurrbart und einer Nase, deren Haut sich vom Sonnenbrand schälte“) trinken sie Highballs. Er lädt sie zum Angeln nach Key West ein und vermittelt ihnen eine Besichtigung des Gefängnisses von Sing-Sing.
Dorthin fahren sie bereits mit ihrem Reisebegleiter, Mr. Adams. Die Reporter kaufen auf seinen Rat einen mausgrauen Ford, seine Frau wird für 60 Tage ihre Fahrerin sein. Sie treffen Reiche und Arbeitslose, Afroamerikaner und Indigene, berühmte Künstler und einfache Angestellte, sogar den Präsidenten bei einem Presseempfang. Jedes Detail interessiert sie. Schon am ersten Tag auf dem Highway sind sie begeistert von der makellosen Straße. Aber der brutale Fahrstil dort erschreckt sie. Die Technik erstaunt sie, über die Werbung für all diese Güter und Maschinen für den Haushalt sind sie amüsiert: „Nein, mit Werbung ist es viel leichter. diepresse.com/literaturreise
Der Amerikaner muss sich über nichts Gedanken machen. Das Denken nehmen ihm die großen Handelsgesellschaften ab.“Kurz gesagt, „wer Coca-Cola trinkt, dem geht es gut im Leben!“Ihnen fällt Konsumrausch auf. Alles, Häuser, Autos Haushaltsgeräte, werde auf Raten bezahlt, die Menschen würden so in finanzielle Abhängigkeit geraten.
Ein erster Ort für die Massenerzeugung ist Schenectady in Upstate New York: „Die größte Kleinstadt der Vereinigten Staaten“, verheißt ein Schild. Dort hatte damals General Electric seinen Hauptsitz. Ein Ort des Lichts und der Reklame. Beim Werkbesuch schwärmen sie von all den Segnungen der Technik, die ihnen ein PR-Abteilungsleiter namens Ripley in seinem „elektrischen Haus“zeigt. Lauter Ware von hoher Qualität. Das Problem: „Wie soll man sich da zurückhalten und keinen neuen Staubsauger kaufen, obwohl der alte funktioniert und noch zehn Jahre lang benutzt werden kann?“Und: Geld bedeutet Amerikanern alles.
Weiter geht es, zu den Niagarafällen, zu den großen Industriemetropolen. Den Höhepunkt der Massenproduktion sehen sie in Dearborn, wo Henry Ford die Fließbandproduktion für seine Autos perfektioniert hat. Der Milliardär empfängt sie. Seine Rastlosigkeit fällt ihnen auf: „Er hat die eng beieinanderstehenden scharfen Augen eines Bauern. Überhaupt ähnelt er einem spitznasigen russischen Bauern, talentiert und erfinderisch, der sich nur den Bart abrasiert hat und in einen englischen Anzug gestiegen ist.“
Enttäuscht vom Moloch Chicago
Rasch ziehen nach New York, Pennsylvania und Ohio auch Michigan, Indiana und Illinois vorbei. Der Moloch Chicago, die Stadt des Fleisches und der Gangster, enttäuscht sie, die Inszenierung Mark Twains in Hannibal entzückt sie. Bald aber kommt auf diesen 60 Etappen auch die Erkenntnis: All diese Städte und Städtchen scheinen sich zu gleichen. Es ist eben das eingeschoßige Amerika: Nicht Wolkenkratzer dominieren das weite Land, sondern niedere Bauten entlang der
High Street oder eines Broadway, draußen, fast noch in der Wildnis. Die Reporter überqueren Gebirge und Wüsten, sehen den Grand Canyon und landen schließlich am Pazifik. Für die Filmmetropole Los Angeles und ihre meist triviale Massenware haben sie fast nur Spott: „Hollywood, dessen Ruhm Hunderte Male um die Welt gegangen ist, Hollywood, über das in zwanzig Jahren mehr Bücher und Artikel geschrieben wurde als in zweihundert Jahren über Shakespeare . . . dieser Traum von Hunderttausenden Mädchen auf der ganzen Welt, ist langweilig, todlangweilig.“Sie bleiben zwei Wochen in dieser künstlichen Stadt. Kurz begegnen sie Bette Davis, dem Autor Upton Sinclair und dem Regisseur Lewis Milestone.
Die Rückreise wird viel knapper geschildert, es geht von der Grenze zu Mexiko via Texas und den Golf und die Südstaaten dann die Ostküste entlang über Washington, D. C., bis zur Abfahrt von New York. Nach 25 Staaten und mehreren Hundert Städten heißt es Abschied nehmen. Die Majestic nimmt Fahrt auf: „Ein paar Stunden später war Amerika spurlos verschwunden.“
Ilja Ilf, Jewgeni Petrow: „Das eingeschossige Amerika. Eine Reise mit Fotos.“Die Andere Bibliothek, Eichborn 2011, 693 Seiten, zwei Bände. Vorwort von Felicitas Hoppe. Die deutsche Büchner-Preis-Trägerin hat sich zudem 80 Jahre später auf die Spur der beiden Autoren begeben und dazu einen Roman geschrieben: „Prawda. Eine amerikanische Reise.“Fischer 2018, 320 Seiten.