In Moskau fallen Coronahemmungen
Russland. Überraschend ordnet Bürgermeister Sobjanin die Öffnung der Hauptstadt im Eiltempo an. Er folgt damit dem Kurs des Kreml, der schon länger auf die Rückkehr zur Normalität drängt.
Moskau. In diesen strahlenden Frühsommertagen zeigt sich der Rote Platz wieder so, wie man ihn kennt: vollgeräumt mit Büdchen, Zelten und Sitztribünen. Mehr als zwei Monate war das Kopfsteinpflaster verwaist. In der russischen Hauptstadt galt das Regime der „Selbstisolation“. Es gestattete Ausgang nur in bestimmten Fällen. Die meisten Geschäfte waren geschlossen, Events untersagt. Die Buchmesse ist die erste Großveranstaltung auf dem zentralen Platz seit Beginn der Coronakrise.
Eine Schar furchtloser Kulturliebhaber hat sich versammelt. Eine Dame in Schwarz deklamiert Verse der berühmten Dichterin Anna Achmatowa. Applaus. An den Ständen präsentieren Verlage ihre Novitäten, die man an Ort und Stelle erstehen kann. Zwei Frauen in weißen Overalls stören den Verkauf. „Zeit für eine Reinigung!“, rufen sie und besprühen emsig Tische und Wände mit Desinfektionsmittel. Hygienekontrolle auch beim Eingang: Vorgelassen wird nur, wer Maske und Handschuhe trägt. Doch Menschenaufläufe wird es im Zentrum Moskaus künftig wieder öfter geben: Bürgermeister Sergej Sobjanin erließ am Montag überraschend eine Verordnung, die die Beschränkungen der vergangenen zwei Monate im Eiltempo aufhebt. Ab Dienstag dürfen Friseure und Schönheitssalons wieder aufmachen. Ab 16. Juni Cafes´ mit Sommerterrasse, eine Woche später Schwimmbäder und Fitnessklubs.
Fallzahlen bleiben auf Plateau
Sersch, schwarze Maske, Totenkopfshirt, hat zwei Bücher gekauft. „Ich habe mich nach menschlicher Gesellschaft gesehnt“, sagt der 30-Jährige. Zum ersten Mal seit Beginn der Selbstisolation Ende März hat er das Haus verlassen. Wie viele Russen hat Sersch eine eher abgeklärte Haltung zu der Pandemie: „Viren gab es immer“, sagt er.
Noch immer sind in Russland die Coronazahlen hoch. Sie verharren auf einem Plateau von knapp 9000 Neuansteckungen pro Tag. Währen die Fallzahlen in den Regionen steigen, gehen sie in Moskau – das als Erstes von der Krise betroffen war – langsam zurück. 2001 neue Fälle waren es gestern. Zum Vergleich: Am 29. März, einen Tag nach Einführung der Moskauer Beschränkungen, zählte man 197 Neuinfektionen in der Hauptstadt und 1534 im ganzen Land. Von einer Verbesserung der Covid-Situation kann also keine Rede sein.
Doch Russland muss wieder laufen, Coronavirus hin oder her. Die Öffnung hat der starke Mann im Kreml befohlen. Schon vor ein paar Wochen, auf dem Höhepunkt der Krise Mitte Mai, gab Wladimir Putin das Signal für den Neustart. Bald darauf legte er noch den Termin der Militärparade auf 24. Juni und der Abstimmung über die Verfassung auf 1. Juli fest – für den Kreml zwei zentrale politische Agenden. Moskaus Stadtchef Sobjanin soll Bedenken an der rasanten Öffnungspolitik geäußert haben. Doch ihm bleibt nichts anderes übrig, als die Lockerungen Schritt für Schritt umzusetzen. Zuletzt überprüfte das Justizministerium Sobjanins Anordnungen in der Coronakrise auf ihre Gesetzmäßigkeit. Zwar stellte man keine illegalen Schritte fest. Doch ist es ein unmissverständliches Signal, dass die Zeit der Alleingänge vorbei ist. Die Buchmesse, die am vergangenen Samstag begann, musste Sobjanin übrigens nicht genehmigen: Der Rote Platz ist föderales Territorium, untersteht also dem Kreml.
Fehlgeschlagenes Experiment
Zuletzt hatte in Moskau im Zusammenhang mit den Ausgangsbeschränkungen ein kompliziertes, bürokratisch anmutendes Regelsystem geherrscht. So durften die Moskauer neuerdings dreimal wöchentlich in einem Umkreis von zwei Kilometern spazieren gehen. Jedem Wohnhaus wurden Spaziertage zugeteilt. Die Behörden bezeichneten dies als „Experiment“.
Ein Experiment, das fehlschlug. Denn die Bürger kümmerten sich herzlich wenig um die Vorschriften. Am vergangenen Wochenende strömten Tausende in die Parks, die überwiegende Zahl ohne die vorgeschriebenen Masken. Auch Alexander und Jelena fühlten sich nicht an den Plan gebunden: „Wir haben den Überblick verloren, welche Regeln der Moskauer Behörden gerade gelten.“Zumindest diese Coronaverwirrung ist nun zu Ende.
Wir haben den Überblick verloren, welche Regeln der Moskauer Behörden gerade gelten.
Alexander und Jelena, Paar aus Moskau