Eine zweite Viruswelle erfasst den Iran
Analyse. Iran zahlt Preis für zu rasche Lockerungen der Covid-Maßnahmen. Doch die Regierung lehnt neue Einschränkungen ab. Zu groß ist der Unmut im Volk.
Teheran/Istanbul. Als die Welt im April geschockt auf die schnelle Ausbreitung des Coronavirus starrte, fällte die iranische Regierung eine folgenschwere Entscheidung. Die Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs sei größer als das Risiko durch Covid-19, beschloss Präsident Hassan Rohani. Der Iran litt schon vor Corona unter den drastischen US-Sanktionen sowie unter den Folgen von Korruption und Misswirtschaft. Rohani verkündete deshalb eine schrittweise Wiedereröffnung geschlossener Unternehmen. Zwei Monate später wissen die Iraner, dass die Rechnung nicht aufgegangen ist: Während viele Länder für den Herbst eine zweite Coronawelle befürchten, ist sie im Iran bereits angekommen.
Der Iran meldete Mitte Februar die ersten Corona-Ansteckungen, wahrscheinlich wurde das Virus von Geschäftsleuten aus China eingeschleppt. Rohanis Regierung versuchte zunächst, das Problem unter den Teppich zu kehren. Nach Angaben von Parlamentsabgeordneten wurde ein schwerer Ausbruch von Covid-19 in der Stadt Qom, dem Epizentrum der iranischen CoronaEpidemie, zuerst verschwiegen und dann heruntergespielt. Eine Abriegelung von Qom, einem wichtigen Wallfahrtsort, lehnte die Regierung ab. Zwei Monate später verzeichnete das Land mehr als 3000 neue Infektionen pro Tag. Selbst der oberste Corona-Beauftragte der Regierung erkrankte. Der Iran wurde zum Infektionsherd für den ganzen Nahen Osten.
Zweifel an amtlichen Fallzahlen
Den offiziellen Zahlen zufolge steht der Iran mit rund 172.000 Infektionen und 8300 Todesfällen bei einer Bevölkerung von über 80 Millionen Menschen zwar sogar besser da als Deutschland. Allerdings glaubt kaum jemand, dass die amtlichen Zahlen die Wahrheit widerspiegeln. Ein Bericht für das iranische Parlament kam zu dem Schluss, dass die tatsächliche Zahl der Coronafälle im Land doppelt so hoch liegen könnte wie offiziell angegeben. Die Exil-Opposition will sogar 50.000 Tote gezählt haben.
Rohani hielt trotzdem Kurs – und sah sich zunächst bestätigt: Die Zahl der offiziell erfassten Fälle ging in der zweiten Aprilhälfte stark zurück. Anfang Mai lagen die täglichen Neuerkrankungen unter der Marke von 1000 Fällen. Normalisierung lag in der Luft – der Iran widmete sich wieder seinem Dauerstreit mit den USA. Doch dann stieg die Kurve wieder an. Vor einigen Tagen lag die Zahl der Neuinfektionen wieder über 3000. Gesundheitsminister Saeed Namaki verglich den Kampf gegen das Virus mit einem Fußballspiel. Der Krankheitserreger werde „ein Tor in der 90. Minute erzielen“, wenn sich das Land in Sicherheit wiege.
Jetzt wäre die Zeit gekommen, nach den begangenen Fehlern zu fragen und das Ruder herumzureißen. Doch der Iran hat ein
Problem: In der Islamischen Republik gibt es zwar Sündenböcke, aber keine institutionelle Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Präsident Rohani schob die Schuld auf Einzelereignisse wie Hochzeitsfeiern, bei denen unvorsichtige Bürger die explosionsartige Ausbreitung des Virus verursacht hätten. Andere Regierungsvertreter erklären die wachsenden Krankheitszahlen mit der steigenden Zahl von Coronatests.
Doch obwohl die zweite Welle das Land erfasst, will Rohani keine stärkeren Beschränkungen des öffentlichen Lebens: „Wir haben keine andere Wahl.“2019 etwa erlebte das Regime schwere Proteste der verarmten Bevölkerung gegen eine Benzinpreiserhöhung. Die Mullahs wissen, dass viele Bürger das System für die Probleme verantwortlich machen. Unter diesen Umständen will Rohani einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit unter allen Umständen verhindern. Ob er das angesichts der US-Sanktionen und der niedrigen Ölpreise schaffen kann, ist unsicher. Der Internationale Währungsfonds erwartet, dass die iranische Wirtschaft 2020 um sechs Prozent schrumpfen wird.