Corona als Chance für den Balkan?
Südosteuropa könnte langfristig von einer Straffung der Lieferketten profitieren.
Belgrad/Zagreb. Schlechte Nachrichten kommen in der Viruskrise auch im Südosten des Kontinents nie allein. Ein Minuswachstum von elf Prozent sagt das Wiener Institut für Wirtschaftsvergleiche beispielweise dem stark vom Tourismus abhängigen EU-Neuling Kroatien für dieses Jahr voraus.
Laut Angaben von Kroatiens Arbeitsamt HZZ ist die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen allein in den ersten zwei Monaten der Coranakrise von Mitte März bis Mitte Mai um 32,49 Prozent gestiegen. Die derzeitige Zahl von knapp 160.000 Arbeitslosen könnte sich nach Ansicht heimischer Ökonomen im schlechtesten Fall bis zum Jahresende verdoppeln. „Die Lawine der Entlassungen folgt erst noch“, unkt dunkel das Webportal „index.hr“.
„Wir können schnell reagieren“
Zur Kurzarbeit ist derzeit auch Kroatiens Textilgigant Varteks in Varazdinˇ gezwungen. Aber dennoch ist Vorstandschef Tomislav Babic überzeugt, dass sein Unternehmen „stärker als viele Konkurrenten“aus der Viruskrise hervorgehen werde. Der Trend gehe „zur Rückkehr der Mode aus Asien nach Europa“, sagt er im Gespräch mit der „Presse“. „Wir produzieren für den Markt in unserem eigenen Hinterhof, können sehr schnell auf Trends reagieren – im Gegensatz zu den Konkurrenten, die vor allem Importeure ihrer Waren sind.“
Von Albanien bis Rumänien: Auch Südosteuropas Wirtschaft trifft die Viruskrise mit voller Wucht. Doch langfristig könnte der Balkan von der erwarteten Straffung der Lieferketten als Folge der Coronakrise profitieren: Neben geringeren Löhnen und der in diesen Ländern verfügbaren Arbeitskraft macht die Nähe zu den westeuropäischen Märkten die Rückstandsregion für das sogenannte Nearshoring interessant. Gemeint ist damit die Rückholung oder das „In-die-Nähe-Holen“der nach Asien ausgelagerten Produktion nach Europa. Vollmundig fordern patriotisch bewegte Politiker in Westeuropa angesichts der Globalisierungskritik in der Viruskrise genau das: Die nach Asien ausgelagerten Fabriken der nationalen Industrieflaggschiffe sollen möglichst rasch zurück nach Europa geholt werden.
Fokus auf „EU-Wartesaal“
Die angesprochenen Unternehmen kalkulieren indes eher kühl – und lassen sich bei Standortentscheidungen vor allem von zwei Faktoren leiten: Kosten und verfügbare Arbeitskraft. Besonders der letzte Punkt könnte – im Gegensatz zu lang beliebten Investorenzielen wie Ungarn, Polen oder Tschechien – für Südosteuropa sprechen.
Vor allem der gebeutelte EUWartesaal auf dem Westbalkan könnte in den Fokus rücken. Staaten wie Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien oder Serbien würden „praktisch vor der Haustüre“der EU liegen, sagt Patrick Martens, der Delegierte der Deutschen Wirtschaft in Skopje. Zwar sei das Ergebnis der Coronakrise noch nicht absehbar: „Aber ich bin optimistisch, dass die Krise genutzt wird. Bei der Neuausrichtung der Lieferketten gibt es am Westbalkan keinen Weg vorbei.“
Langwierige Aufholjagd
„Coronakrise – die große Chance für den Westbalkan?“, titelt bereits hoffnungsfroh der Newsletter der deutschen Außenhandelsförderung GTAI: „Der Westbalkan könnte für die EU das werden, was Mittelamerika für die USA ist: ein Investitions- und Zulieferstandort mit großer geo- und wirtschaftspolitischer Bedeutung.“
Doch im derzeitigen Krisenjammertal ist die langfristige Verheißung neuer Investoren nur ein schaler Trost für die Region. Nach der Weltwirtschaftskrise von 2008 benötigten Staaten wie Kroatien oder Serbien fast ein Jahrzehnt, um wieder auf ihren Vorkrisenstand zu gelangen.
Dieses Mal könnte es mit der wirtschaftlichen Erholung zwar schneller gehen: Bereits für 2021 sind wieder satte Zuwächse prognostiziert. Diese werden jedoch nicht reichen, um die Einbrüche dieses Jahres zu kompensieren. Frühestens im übernächsten Jahr könnte die Region das schaffen. Statt sich dem EU-Standard anzunähern, droht der ausgezehrte EUWartesaal bei seiner endlosen Aufholjagd zwei weitere Jahre zu verlieren.