Warum Schwarze Amerikas Gefängnisse füllen
USA. Für die viel gerühmte Doku „Der 13.“sind es scheinbar neutrale Gesetze und politische Kampagnen, die den Rassismus gegen Afroamerikaner bis heute zum System machen. Bewährt sich die These in den Protesten gegen Polizeigewalt?
Vier ganzseitige Inserate in New Yorker Zeitungen: Der Immobilienunternehmer ließ sich seine Kampagne einiges kosten. Er forderte 1990 die Todesstrafe für das „Wolfsrudel“, wie Medien sie nannten: fünf Teenager – vier schwarze, ein Latino –, die im Central Park eine weiße Joggerin vergewaltigt haben sollten. Sie wurden zu langen Haftstrafen verurteilt, unschuldig, wie sich viel später herausstellte. Der Unternehmer hat sich bei ihnen nie entschuldigt. Im Gegenteil: Als er 2016 für die Präsidentschaft kandidierte, nannte er ihre finanzielle Entschädigung eine „Schande“. Und zu Menschen, die auf seinen Veranstaltungen gegen solche Aussagen protestierten, fiel ihm ein: „In der guten alten Zeit hätte man sie auf einer Tragbahre hinausgebracht.“
Nein, man braucht sich nicht zu wundern, warum der seelische Schmerz, die unterdrückte Wut der Schwarzen in Amerika sich gerade unter Donald Trump so mächtig Bahn brechen. Schwerer verstehen können viele Europäer, warum der strukturelle Rassismus dort noch immer virulent ist – eineinhalb Jahrhunderte nach Ende der Sklaverei, ein halbes nach dem Sieg der Bürgerrechtsbewegung. Dazu lohnt ein genauerer Blick auf die Thesen der Netflix-Doku „Der 13.“, die 2016 für den Oscar nominiert wurde und seit Kurzem frei auf YouTube zu sehen ist. Der Titel bezieht sich auf jenen Verfassungszusatz, der 1865 die Sklaverei verbot – und die Diskriminierung auf Schienen umlenkte, die bis in die Gegenwart führen.
Das Schlupfloch der Strafe
Weiter explizit erlaubt blieb damals die „unfreiwillige Knechtschaft“als „Strafe für Verbrechen“. Die nur scheinbar harmlos-triviale Ergänzung schuf ein Schlupfloch für die Südstaaten, deren Wirtschaft am Boden lag. Sie hatten ja nicht nur den Bürgerkrieg, sondern auch vier Millionen unbezahlter Arbeitskräfte verloren. Rasch füllten sich ihre Gefängnisse mit schwarzen Männern, die wegen Bagatelldelikten wie „Herumlungern“und „Landstreicherei“zu absurd langen Haftstrafen verurteilt und dann im Rahmen des „convict leasing“für Zwangsarbeiten aller Art kostenlos „vermietet“wurden.
Von nun an galten Afroamerikaner in den Köpfen von Rassisten als geborene Verbrecher. Die weiße Mehrheit musste sich vor ihnen schützen, vor allem die weißen Frauen, über die solche „animalischen“Wesen angeblich so gern herfielen – es sei erwähnt, dass nach der Statistik weit öfter schwarze Frauen Opfer von weißen Vergewaltigern waren. Ein Dokument für die tief sitzende Verachtung ist der erfolgreichste aller Stummfilme, „The Birth of a Nation“von 1915. Dieses Historiendrama über die Bürgerkriegszeit ist zugleich ein Meilenstein in der Filmgeschichte und ein Machwerk, das Schwarze als teils dumm und hündisch ergeben, teils bösartig und aggressiv darstellt.
Noch in der Zwischenkriegszeit kam es zu Lynchmorden eines weißen Mobs. Als solche Atrozitäten nicht mehr gesellschaftlich akzeptabel waren, blieb noch die Rassentrennung, die viele Bundesstaaten nach dem Ende der Sklaverei eingeführt hatten. Auch ein heute ikonischer Bürgerrechtskämpfer wie Martin Luther King, der sich gegen die Demütigung im Alltag auflehnte, galt vielen Weißen anfangs als kriminell – und seine Anhänger nicht minder.
Aber warum endete der Spuk nicht mit der rechtlichen Gleichstellung? Die USA haben nur fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber ein Viertel aller Gefängnisinsassen – und damit die höchste Rate der Welt. Doch erst seit den 1970er-Jahren schwoll die Zahl der Inhaftierten von 300.000 auf heute 2,3 Millionen an – vor allem im Rahmen des „War on Drugs“, in dem auch die Konsumenten von Rauschgift eingesperrt wurde.
Heikle Fragen bleiben ausgespart
Die harten, langen Strafen fassten dabei nicht die Kokain schnupfenden Investmentbanker aus, sondern schwarze Ghetto-Kids auf Heroin oder Crack. So erklärt Ava DuVernay, die Regisseurin von „Der 13.“, warum 40 Prozent der Inhaftierten Afroamerikaner sind, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung nur 6,5 Prozent ausmacht. Reuig im Zeugenstand: der prominente Republikaner Newt Gingrich, für den im Rückblick die Ungleichbehandlung „fundamental ein Gefühl von Fairness verletzte“, und Bill Clinton, der die von ihm forcierten „Masseninhaftierungen“heute als „überzogen und falsch“ansieht. Freilich: Heikle Fragen, die sich die
Gemeinschaft der Afroamerikaner selbst stellt, blendet der Film aus. Wie die verinnerlichten Stereotype: Wer als schwarzer Jugendlicher von Anfang an in die Ecke von Gewalt und Aggressivität gestellt wird, formt danach auch eher sein „männliches“Selbstbild. Oder die Identitätspolitik: Es ist den Afroamerikanern nicht zu verdenken, wenn sie sich nach Jahrhunderten leidvoller Erfahrungen auf ihre Identität zurückziehen wie ein Igel in sein Stachelkleid. Aber wie ist eine friedliche, fruchtbare Koexistenz künftig möglich, wenn man nur das Trennende betont und das Gemeinsame nicht sieht?
Trump reißt die Gräben weiter auf, mit jenen Law-and-Order-Parolen, die seit den Tagen Nixons auch als versteckte Botschaft an rassistische Wähler dienten. Aber die Opfer wissen sich heute besser zu wehren: Mit der Handykamera dokumentieren sie Auswüchse der Polizeigewalt und verbreiten sie im Netz. Damit kann niemand mehr wegschauen. Ein Amerika ohne Diskriminierung: Was Politik und Gesetz nie ganz gelungen ist, könnte das Smartphone vollenden.