„Send In the Troops“, die Schlagzeile aus Blut und Papier
Der Text in der „New York Times“war eine Brandbombe. Nur: Die heißeste Zutat darin kam von der Zeitung selbst. Verfechter und Gegner öffentlichen Meinungsdrucks sehen sich bestätigt. Zu Unrecht.
Am Mittwoch, dem 3. Juni, stand in der „New York Times“ein Gastkommentar des republikanischen US-Senators Tom Cotton, mit dem Titel „Send In the Troops“– ein Plädoyer für den Einsatz des Militärs auf den Straßen als Notmaßnahme zur Eindämmung der Gesetzesbrüche. Zwei Tage später stellte die „New York Times“der Online-Ausgabe des Artikels eine Stellungnahme voran, in der sie erklärte, die Veröffentlichung des Artikels sei ein Fehler gewesen. Noch einmal zwei Tage später wurde bekannt, dass der Chef der Meinungsseite, James Bennet, nach heftiger Kritik gekündigt hatte.
Das könnte Erinnerungen an den erzwungenen Abgang des renommierten Autors und Journalisten Ian Buruma als Chefredakteur der „New York Review of Books“wecken. Im Zuge der MeToo-Affäre hatte er 2018 die Veröffentlichung eines Texts des sexueller Übergriffe beschuldigten, vor Gericht freigesprochenen Radiomoderators Jian Ghomeshi zugelassen.
Doch die zwei Fälle sind nicht vergleichbar. Ghomeshi schrieb damals, nachdenklich und eindringlich, über die Einsicht in seinen eigenen Sexismus, aber auch den Abgrund, in den ihn das grenzenlose Wüten gegen ihn in den sozialen Medien gestoßen hatte. An diesem Text hätte spürbar werden können, wie der Furor des Gefechts den „Gegner“entmenschlicht (vielleicht ohne dass es die Wütenden überhaupt merken). Er hätte Fronten aufweichen können.
Der Text in der „New York Times“verschärft die Fronten. Das allein wäre freilich noch kein Argument gegen seine Veröffentlichung. Es gibt die Kontroverse, es kann, ist man kein Kampagnenblatt, nur darum gehen, ihr mit seriösen Standards Raum zu geben, statt sie zu verstecken. Die „New York Times“betont auch, dass Cottons „grundlegende Argumente“„ein berichtenswerter Teil der gegenwärtigen Debatte seien“. Doch bei einem solchen Thema, bei dem es um Leben und Tod gehe, und einem so hochrangigen Verfasser, der so schwer wiegende Maßnahmen vorschlage, hätte es, so die Zeitung, „höchster Sorgfalt“bedurft.
Stattdessen bekam der Kommentar einen Titel verpasst, der hetzerischer war als jeder Satz im Artikel selbst (der wenigstens den friedlichen Demonstranten Sympathie bekundete), der auch am meisten in der Öffentlichkeit hängen bleiben wird: „Send In the Troops“, „Schickt die Truppen rein“. Eine Schlagzeile im buchstäblichen Sinn. Allein sie hätte, angesichts der dramatischen Lage, die Empörung gerechtfertigt. Außerdem verwies die Zeitung auf drei inhaltlich fragwürdige Behauptungen, etwa über die Rolle der radikalen linken Antifa in den Gewaltausbrüchen, die geprüft werden hätten müssen.
Eine differenzierte Erklärung. Ob sie auch Gehör finden wird? Eher wohl werden wieder jene sich bestätigt fühlen, die den massiven Druck bestimmter öffentlicher Meinungen, nicht nur in den USA, beklagen. Und genauso jene, die meinen, dass in einer Zeitung an Meinung nicht sein darf, was nicht sein soll.
anne-catherine.simon@diepresse.com