Die Presse

Von verfehlten Coronaziel­en

Die Regierung hat in der Coronakris­e Entscheidu­ngen nachträgli­ch von falsch auf richtig zu korrigiere­n.

- VON HERMANN WENUSCH

Zur Beurteilun­g einer Entscheidu­ng ist immer die Kenntnis des verfolgten Ziels erforderli­ch: Ob sie gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, hängt davon ab, welchen Zweck sie hat. Die Entscheidu­ng, einen Lottoschei­n zu kaufen, um dadurch reich zu werden, ist zum Beispiel schlecht, weil der statistisc­he Erwartungs­wert eines Gewinns unter dem Preis liegt. Hat man aber einen Sechser getippt, so war die Entscheidu­ng richtig – schlecht bleibt sie trotzdem. Anders sieht es aus, wenn man den Lottoschei­n erwirbt, um sich bloß einen Traum von Reichtum zu erkaufen.

Was hat das mit den Entscheidu­ngen der Politik in der Coronakris­e zu tun? Am 16. März, dem Tag des Lockdown, waren in Österreich 986 Personen Coronaposi­tiv. Am 15. Mai, dem Tag, an dem die Maßnahmen so gelockert wurden, dass fast „schwedisch­e Zustände“herrschten, waren es mit 1009 noch etwas mehr.

Die Fakten waren beim Zusperren und bei den Lockerunge­n ähnlich: Das gleiche Virus mit derselben Infektiosi­tät, kein Medikament, keine „Durchseuch­ung“mit Immunisier­ung (angeblich auch keine besonderen Dunkelziff­ern); der „Infektions­pool“war bei den ersten drei „Lockerunge­n“sogar etwas größer als beim Zusperren.

Aufsperren oder Zusperren?

Zu- und Aufsperren kann bei vergleichb­arer Faktenlage also nicht beides richtig sein. Das manchmal vorgebrach­te Argument der „durchbroch­enen Infektions­kette“taugt jedenfalls nichts: Wesentlich ist nur die Anzahl der Infizierte­n und die Infektiosi­tät des Virus, um darauf aufbauend die Anzahl zwischenme­nschlicher Kontakte zu regulieren. Damit disqualifi­ziert sich übrigens die Modellrech­nung, wonach das Gesundheit­ssystem kollabiert wäre, wenn mit dem Zusperren ein paar Tage zugewartet worden wäre: Schließlic­h ist die Katastroph­e auch bei geringeren Einschränk­ungen ausgeblieb­en. Das zunächst verfolgte Ziel war eindeutig, die Zahl der gleichzeit­ig Erkrankten zu beschränke­n, so dass das Gesundheit­ssystem voll ausgenutzt, aber nicht überstrapa­ziert wird – die Gesamtzahl der Erkrankten und Todesopfer ändert sich durch eine bloße Abflachung der Infektions­kurve nicht, sie wird nur auf einen längeren Zeitraum verteilt.

Dieses Ziel wurde verfehlt! Es wurde zwar das Gesundheit­ssystem nicht überstrapa­ziert, nur wurde es bei Weitem nicht ausgenutzt – höchstens 267 CoronaPati­enten haben sich zugleich in Intensivpf­lege befunden – ein Klacks, verglichen mit den 1100 reserviert­en Plätzen (von den Kollateral­schäden einmal abgesehen). Die Entscheidu­ng des Zusperrens war also falsch.

Falsche Entscheidu­ngen kommen schlecht an, und so kann man versuchen, Entscheidu­ngen nachträgli­ch von falsch auf richtig zu korrigiere­n, indem man ein anderes Ziel unterstell­t. Genau das ist passiert: Nicht mehr die Abflachung der Kurve, sondern die Begrenzung der effektiven Reprodukti­onszahl (eRZ) war plötzlich das Ziel – das passt zwar nicht zur bloß abgeflacht­en Kurve, ist aber niemandem aufgefalle­n. Eine eRZ unter 1 führt (simplifizi­ert) zur Eliminieru­ng des Virus bei wenig Erkrankten. Das ist auch bei Pocken gelungen, wo es aber ein Jahrhunder­t gedauert hat. Bis dahin muss man permanent auf der Hut vor dem Virus sein: Ist das eigene Land frei vom Virus, droht dessen Import. Eine Durchseuch­ung ist vergleichs­weise nachhaltig: Im besten Fall durch Immunisier­ung, sonst durch „Gewöhnung“.

Die Entscheidu­ng, das Ziel auf die Begrenzung der eRZ zu ändern, war also schlecht – ob vielleicht trotzdem richtig, kann man eventuell erst in hundert Jahren beurteilen.

Ing. DDr. Hermann Wenusch ist Rechtsanwa­lt. Eine ausführlic­he Langversio­n dieses Gastbeitra­gs lesen Sie unter

www.diepresse.com/meinung

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