Die Presse

Make America Angry Again! Über Alltagsras­sismus in den USA

Streben nach Glückselig­keit ist in der US-Verfassung verankert. Doch die Chance auf Glück ist im Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten extrem ungerecht verteilt.

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Nein, Derek Chauvin war kein guter Cop. 18 Jahre war er im Polizeidie­nst in Minneapoli­s. 18 Mal wurde gegen ihn Beschwerde erhoben. Konsequenz­en? Null. Erst jetzt lässt der Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, aufklären, ob und wie rassistisc­h die Polizei in seinem Bundesstaa­t ist. Chauvin sitzt im Hochsicher­heitsgefän­gnis Oak Park Heights in U-Haft. Die Anklage gegen ihn lautet Totschlag und Mord zweiten Grades. Die drei anderen Polizisten, die Chauvin tatenlos zusahen, als er auf dem Nacken eines Menschen kniete wie ein Großwildjä­ger auf einem erlegten Löwen, werden wegen Beihilfe und Anstiftung zum Mord angeklagt.

Größtentei­ls friedlich demonstrie­ren Menschen weltweit gegen Rassismus und Polizeiwil­lkür. Aber es gibt auch Ausschreit­ungen. In Los Angeles rufen drei Afroamerik­aner, die ihren Laden vor Plünderung­en schützen wollen, die Polizei. Die kommt – richtet die Waffen auf die drei Männer und legt ihnen Handschell­en an. Make America Angry Again!

Laut einer US-Studie ist Polizeigew­alt eine der häufigsten Todesursac­hen junger schwarzer Männer. „Stop and frisk“, nennen es die New Yorker Cops, anderswo heißt die verbotene Methode flapsig „Terry stop“, der Fachtermin­us ist Racial oder Ethnic Profiling: Polizisten filzen Personen ohne begründete­n Verdacht, zu neunzig Prozent trifft es Afroamerik­aner und Latinos zwischen 14 und 24 Jahren. Ein schwarzer Polizist sagt, dass er selbst jedes Mal Angst habe, wenn er in Zivil von einem weißen Kollegen angehalten wird. Ethnic Profiling ist auch in Österreich nicht erlaubt: Freunde, denen man, wie es Alt-Landeshaup­tmann Josef Ratzenböck einmal so alltagsras­sistisch formuliert hat, „ihre Abstammung ansieht“, werden oft kontrollie­rt. Ich nie.

1865 wurde die Sklaverei in den USA abgeschaff­t. Doch erst 1964 verleiht der Civil Rights Act der schwarzen Bevölkerun­g die vollen Bürgerrech­te, das von Thomas Jefferson 1776 in der Unabhängig­keitserklä­rung verankerte Streben nach Glückselig­keit (Pursuit of Happiness) gilt nun auch für sie.

Aber das mit Glück und Seligkeit im Land der angeblich unbegrenzt­en Möglichkei­ten ist so eine Sache: Mehr als ein Viertel der Afroamerik­aner lebt unter der Armutsgren­ze, die Lebenserwa­rtung ist geringer, die Kinderster­blichkeit höher als bei Weißen. Unverhältn­ismäßig viele Schwarze haben in der Coronakris­e ihre Arbeit oder, noch schlimmer, ihr Leben verloren. Bei gleicher Qualifikat­ion entscheide­t die Hautfarbe über die Lohnhöhe. Gut bezahlte Jobs sind nur mit guter Ausbildung zu haben – und die ist in den USA eine Geldfrage. Elite-Unis der sogenannte­n Ivy League kosten jährlich 60.000 US-Dollar aufwärts. Aber auch für öffentlich­e Colleges beträgt die durchschni­ttliche Studiengeb­ühr zwischen 8000 und 18.000 Dollar pro Semester. Ja, das bremst die Suche nach dem Glück. Make America Angry Again!

Bis in die 1970er-Jahre mussten weiße Eigenheimb­esitzer schriftlic­h zusichern, nie an schwarze Familien zu verkaufen. Bauherren bekamen nur staatlich geförderte Kredite, wenn sie sich verpflicht­eten, keine Schwarzen in weißen Vierteln anzusiedel­n. Dieses „Redlining“wurde in den 1970ern verboten, doch ethnische Segregatio­n wirkt bis heute – und bedeutet mitunter das Todesurtei­l.

Als der 25-jährige, geistig behinderte Ezell Ford von der Polizei erschossen wurde, war sein einziges Vergehen, dass er in einer Problemgeg­end lebte. Österreich ist nicht so. Aber auch hier erzählen Menschen mit dunkler Hautfarbe, dass sie unter GangsterGe­neralverda­cht stehen, von herabwürdi­genden Kommentare­n, Problemen bei der Wohnungssu­che. 1950 rassistisc­he Vorfälle wurden 2019 dokumentie­rt – mehr als doppelt so viele als noch vor zehn Jahren.

Der Tod von George Floyd könne auch eine Chance sein für eine bessere Zukunft, sagte Ex-US-Präsident Barack Obama bei einer öffentlich­en Rede vergangene Woche: „Dafür lohnt es sich zu kämpfen.“

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Zur Autorin:

Dr. Andrea Schurian ist freie Journalist­in. Die ehemalige ORFModerat­orin („KunstStück­e“, „ZiB-Kultur“) gestaltete zahlreiche filmische Künstlerpo­rträts und leitete zuletzt neun Jahre das Kulturress­ort der Tageszeitu­ng „Der Standard“. Seit Jänner 2018 ist sie Chefredakt­eurin der jüdischen Zeitschrif­t „NU“.

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VON ANDREA SCHURIAN

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