Gerechtigkeit für die Toten Bergamos
Italien. Angehörige der Covid-Opfer klagen wegen „fahrlässigen Umgangs mit der Pandemie“: Die Provinz Bergamo sei bewusst nicht abgesperrt worden. Unter Druck gerät auch Premier Conte.
Wien/Bergamo. Die Schreckensnachricht aus dem Spital erreichte Cristina Longhini am Telefon: „Ihr Vater wird in wenigen Stunden sterben“, warnte ein Arzt die Frau. Als der 65-Jährige dann aus dem Leben schied, vergaß man, die Tochter zu benachrichtigen.
Der Vater war im März mit Fieber und Atemnot ins überfüllte Spital Papa Giovanni XXIII. der norditalienischen Stadt Bergamo eingeliefert worden. Diagnose: Covid-19. Davor hatte der Hausarzt einen Besuch abgelehnt, tagelang kam keine Ambulanz. Als der kranke Mann schließlich ins Spital kam, verlor die Tochter seine Spur, Kontaktversuche waren vergeblich. Bis zum Anruf: Sie solle eine Intensivstation ausfindig machen, im Spital seien alle Betten belegt. Dann wieder nichts – bis zur Todesbotschaft. Zeit zum Trauern blieb nicht. Niemand konnte Longhinis Familie sagen, wo der tote Vater lag. Er sei wegtransportiert worden. Erst als Longhini die Rechnung eines 200 Kilometer entfernten Krematoriums erhielt, erfuhr sie, wohin sie den Vater gebracht hatten.
Longhinis Odyssee ist kein Einzelfall. 30.000 ähnliche Schicksale sammelten Steuerberater Luca Fusco und sein Sohn Stefano, beide aus Bergamo. Auch Fuscos 85-jähriger Vater starb an Covid-19. Er weiß nicht, ob die Asche in der Urne, die ihm überreicht wurde, wirklich jene des Vaters ist. Er ist überzeugt: Der alte Mann starb wegen des Versagens der Behörden. Das von den Fuscos gegründete Komitee „Noi Denunceremo“(„Wir werden anklagen“) vertritt Angehörige von Pandemie
Opfern. Denn die Menschen müssten über mögliche Verfehlungen Bescheid wissen, die Schuldigen bestraft werden.
Am Mittwoch reichte die Gruppe 50 Klagen gegen Unbekannte wegen fahrlässigen Umgangs mit der Pandemie ein. Weitere 150 Klagen sind in Vorbereitung, sie kommen aus ganz Italien. Dass diese Covid-Sammelklage in Bergamo eingereicht wurde, hat Symbolcharakter: Von den mehr als 16.340 Todesopfern in der Lombardei sind über 13.670 Tote allein aus Bergamo (in Italien starben bisher mehr als 34.000 Personen). Die Bilder überfüllter Spitäler, verzweifelter Ärzte und Pfleger ohne Schutzausrüstung, der Hallen voller Särge oder der Armeelastwagen als Leichenwagen gingen um die Welt. Sie sind Sinnbild des Scheiterns der Behörden.
Gegen diese Behörde wird nun ermittelt: Ins Visier geraten ist vor allem die Region Lombardei, aber auch die Regierung in Rom. Im Zentrum steht die eine Frage: Warum wurden die besonders betroffenen Gebiete der Provinz Bergamo, die Gemeinden Nembro und Alzano Lombardo, erst so spät abgeschottet, was zur massiven Verbreitung des Virus führte? Dazu wurde am Freitag Italiens Premier Giuseppe Conte befragt. Gesundheitsminister Roberto Speranza und Innenministerin Luciana Lamorgese wurden ebenfalls von den Staatsanwälten angehört.
Druck der Industriellen?
Die Vorwürfe wiegen schwer: Nembro und Alzano Lombardo zählten Anfang März schon mehr Covid-Erkrankte und Tote als das lombardischen Städtchen Codogno und Umgebung, das bereits Ende Februar abgeriegelt worden war. Trotz eindringlicher Forderungen von Ärzten und anderen Experten wurden die Provinz Bergamo nicht zur „roten Zone“erklärt. Abgesperrt wurde die Gegend erst am 8. März – gemeinsam mit der gesamten Region. Laut Recherchen der Zeitung „Repubblica“übte in jenen schicksalhaften Tagen Anfang März der Industriellenverband Confindustria heftigen Druck sowohl auf die Region als auch auf die Regierung aus, damit diese wohlhabende Gegend nicht gesperrt werde. Immerhin erwirtschaften dort 376 Unternehmen etwa 680 Millionen Euro im Jahr.
Fusco ist überzeugt: Das betroffene Seriana-Tal hätte bereits am 23. Februar abgeriegelt werden sollen. Verstrichen seien aber „15 kriminelle Tage. Während dieser Zeit sind wir herumgereist, haben gearbeitet, haben in Bars unsere Kaffees oder Aperitifs getrunken. So konnte sich das Virus problemlos verbreiten.“Er gibt zu bedenken: „Hätten wir die Provinz sofort abgeriegelt, wäre der Lockdown der Lombardei oder gar Italiens vielleicht nicht notwendig geworden.“Mit Blick auf den Einsatz von Ärzten und Pflegern zitiert er frustriert Brecht: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“