Standbildersturm in Belgien
Erinnerungspolitik. Abreißen oder in einen erklärenden Kontext setzen? Landesweit ist eine überfällige Debatte darüber ausgebrochen, was mit all den Denkmälern für den umstrittenen König und Kolonisator Leopold II. geschehen soll.
Besonders ungustiös ist jene in der großen Rotunde des Afrika-Museums in Tervuren, einem Vorort Brüssel. Vergoldeter Monumentalschund, der zwei dankbare schwarze Kinder am Mantelsaum eines gütigen Europäers mit Rauschebart darstellt, der klar als Leopold II. zu erkennen ist. „Belgien bringt Afrika die Zivilisation“, heißt diese allegorische Statue des arroganten Herrenmenschendenkens, das im 19. Jahrhundert Usance war. Und genauso redete sich ein Großteil der belgischen Gesellschaft bis in die Gegenwart das Kolonialabenteuer ihres „Roi batisseur“ˆ schön: Er ließ im „Freistaat Kongo“, seiner ihm persönlich unterstellten Domäne von der Größe Westeuropas, Eisenbahnlinien bauen, Schulen errichten, Krankheiten bekämpfen, und er schickte sogar Militärexpeditionen gegen arabische Sklavenjäger in den Norden und Osten dieses riesigen Gebiets. Dass es da und dort zu unschönen Szenen auf Gummibaumplantagen gekommen sein mag: schmeck’s. Die zivilisatorische Mission hat eben ihren Preis. Und hat er, der „batisseur“,ˆ der Baumeister der Nation, nicht Brüssel seine architektonische Pracht verliehen, das kleine, junge Belgien zur ernst zu nehmenden Macht im Konzert der Großen erhöht?
Dieser Diskurs begann vor zwei Jahrzehnten zu bröckeln, als der amerikanische Historiker Adam Hochschild mit seinem Buch „King Leopold’s Ghost“die infernalen Abgründe des Kolonialismus im Kongo einer breiten internationalen Öffentlichkeit bekannt machte. Millionen von Afrikanern starben damals an Krankheiten, Hunger, Entbehrung, durch Gewalt. Berüchtigt wurde die Praxis der Kolonialtruppen, für jede abgefeuerte Patrone eine abgetrennte Hand als Beweis für den Treffer zu sammeln. Das Grauen, wie es Josep Conrad in seinem Roman „Herz der Finsternis“schilderte: Es war nun nicht mehr Fiktion, sondern Evidenz.
Seither verschärft sich der Gegendruck. Seit Jahren übermalen Aktivisten, vor allem kongolesischer Herkunft, regelmäßig Denkmäler Leopolds. Die aktuelle „Black Lives Matter“-Bewegung, die zum beinahe globalen Phänomen geworden ist, hat die Urgenz der Frage, was mit all den Leopold-Statuen geschehen soll, verschärft: In den vergangenen Wochen wurden mehrere Standbilder beschmiert, angezündet, beschädigt. Jene vor der Kirche im Antwerpener Bezirk Lokeren wurde vorige Woche behördlich abgebaut: zu Restaurationszwecken, wie Antwerpens Bürgermeister, Bart de Wever, gleichzeitig der mächtigste Politiker Flanderns, eilig betonte. Es fügt sich gut, dass der Vorplatz der Kirche ohnehin umgestaltet wird. Das renovierte Leopold-Standbild dürfte in einem Museumspark unterkommen.
Neue Schulbücher, arg verspätet
Doch der neue Standbildersturm hat bereits den politischen Mainstream erreicht. Die Mehrheit im Parlament der Region Brüssel beschloss dieser Tage, sämtliche Kolonialmonumente zu kontextualisieren. Das solle auch eine Überprüfung all jener Straßennamen umfassen, die nach Kolonialoffizieren oder sonstigen Beteiligten der Ausbeutung des Kongo benannt sind. Zudem nimmt die Reform des Geschichtsunterrichts nach langen Versäumnissen Fahrt auf. Alle 15-jährigen Pflichtschüler sollen wissen, was wirklich in der 1908 aus Geldnot und nach wachsender internationaler Empörung von Leopold an den belgischen Staat abgetretenen, erst 1960 in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonie passiert ist. Schönheitsfehler: Diese neuen Schulbücher kommen erst ab 2026 stufenweise zum Einsatz.
Doch zurück zu den Leopolds als Bronze, Marmor, Stein. Soll man sie allesamt abreißen, wie es eine von mehr als 70.000 Personen unterzeichnete Petition fordert? „Die komplette Auslöschung aller Leopold-IIDenkmäler wäre falsch“, sagt Ana Miloseviˇc´ im Gespräch mit der „Presse“. Sie erforscht an der Universität Leuven Fragen der Erinnerungskultur und da vor allem jene, welche Rolle Monumente dabei spielen. „All diese Monumente sind Symbole und Artefakte einer Epoche, deren Werte heute nicht mehr zeitgemäß sind“, gibt sie zu bedenken. „Man kann die Vergangenheit nicht mit einem Denkmal reparieren. Das ist nicht die Funktion von Denkmälern. Sie können dabei helfen, ein Trauma anzusprechen. Eine Diskussion zu öffnen. Aber sie sind nun einmal Objekte einer Zeit, die vergangen ist.“
Ein eiskalter Kapitalist – aber kein Hitler
Eine Zeit, über die im Fall Leopolds II. noch immer nicht alles bekannt ist. Die Schlüsselfrage lautet hier: Was genau wusste der König über das Grauen und Morden in seinem afrikanischen Privatstaat, den er nie besucht hat? „In erster Linie war er schlecht informiert“, sagte der Historiker Pierre-Luc Plasman zur Zeitung „Le Soir“. Plasman hatte als einer der bisher wenigen Zugang zum Privatarchiv Leopolds II. „Er erfuhr von den Skandalen aus der Presse, die offiziellen Informationen erreichten ihn mit drei Wochen bis vier Monaten Verspätung.“Mehrfach erließ er Anweisungen, Gewaltakte gegen die Kongolesen zu unterlassen. „Es gab keinen einzigen Befehl dazu aus Brüssel“, hält Plasman fest. Ein genozidaler Kriegsfürst, wie manche Aktivisten heute in ihren Gleichsetzungen mit Hitler unterstellen, war Leopold II. nicht. Sehr wohl aber ein eiskalter Kapitalist, der mit zunehmender Verschuldung seines Hofs immer höhere Renditen aus dem Freistaat zu ziehen befahl. Wie die erzielt wurden, war ihm gleichgültig.
Auch die Sache mit den abgeschnittenen Händen erfordert, so entsetzlich sie ist, Kontext. Nachweislich geschah dies 1894 und 1895 in der Region E´quateur unter einem Offizier namens Victor-Leon´ Fievez.´ Ein besonders übler Zeitgenosse – der wegen dieser Missetaten vom Dienst entlassen wurde. Doch schnell heuerte er bei einer jener privaten Kolonialgesellschaften an, die skrupellos ausbeuteten und Leopold II. Konzessionsgebühren dafür leisteten.