Nach der großen Pause wieder ins Theater!
Wie wird sich die Coronakrise auf das Schauspiel auswirken? Werden die Aufführungen kürzer sein? Cliffhanger vor dem Schloss, im dritten Akt. Elisabeth: „Wer ist die Lady?“Sie erfahren es morgen.
Schluss mit sterilem Streaming, rein ins pralle Theaterleben! Die Fanklubs Melpomene und Thalia in den seit Monaten verwaisten Etablissements des Gegengifts sind in fiebriger Erwartung, dass es nun wieder losgeht mit der Schauspielkunst. Wir erwarten uns sogar eine Art Revolution, eine neue Art der Wahrnehmung des schönen Scheins. Denn von manchen Veranstaltern wurde mahnend angemerkt, dass es nicht nur recht große Abstände zwischen den Besuchern geben werde, sondern dass die Aufführungen auch ohne Pause stattfänden. Das lässt schon auf zügige, ja atemlose Abende hoffen.
Mir persönlich gehen die Pausen nicht ab. Bei guten Inszenierungen reißen sie den Zuseher brutal raus aus berührenden oder packenden Szenen, bei schlechten ist man versucht, sich an der Bar zu trösten, dass noch weitere Stunden abzusitzen sind. Ja, es kann wie Nachsitzen empfunden werden, als ungerechte Strafe. Eine berühmte Intendantin hat dem Klub Thalia einmal ins Notizbuch diktiert, dass die Festwochen nicht zum Vergnügen da seien. Kunst habe die Aufgabe, den Menschen Weltschmerz zuzufügen.
Damit ist im erleichterten, aber wegen drohender viraler Rückschläge noch immer gültigen Ausnahmezustand nun wohl Schluss. Vier bis zwölf Stunden peinigende Hochkultur sind derzeit weder Mimen noch Zusehern medizinisch zumutbar.
Bald werden wir wissen, was künftig das optimale zeitliche Maß an Tragödie oder Komödie sein wird. Vielleicht erstreckt sich dann eine „Maria Stuart“auf zwei Theaterabende, mit einem Cliffhanger vor dem Schloss zu Fotheringhay im dritten Akt. Elisabeth: „Wer ist die Lady?“Die Stimme des Direktors aus dem Off: „Wer ist sie? Das erfahren Sie morgen pünktlich ab 19 Uhr in 83 pausenlosen Minuten.“Der komplette „Faust“würde an gut geführten Theatern naturgemäß zum
Wochenprogramm – täglich höchstens zwei Stunden, bis zur finalen Erlösung. Oder nur eineinhalb?
Von Hollywood haben wir gelernt, dass es in der besten Periode ein enges Zeitfenster für den perfekten Film gab. Er sollte zwischen 79 und 97 Minuten lang sein, jedoch keinesfalls mehr als 127. Ein guter Western ist nach 83 oder 89 Minuten zu Ende. Dann sind alle Bösewichter tot, die Kavallerie ist abgerückt, der Revolverheld hat sich für die blonde Grenzerin entschieden. John Fords „Ringo“zum Beispiel dauert 97 Minuten. Was will man mehr? „The Tornado“(1917), sein Debüt, war sogar nur circa 23 Minuten lang – ausreichend für so einen Wirbel. Zugegeben, später wurde auch der Meister der Filmregie zügellos. Bereits „Mary of Scotland“(1936) ist mit 123 Minuten – nun ja – episch. Vierzig Minuten weniger wären selbst für Katharine Hepburn besser gewesen. Zumindest gilt das für die arme katholische Königin, die seit mehr als 450 Jahren so viel leiden muss.
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