Aus den Wirren Österreichs in die stalinistische Repression
Neue Archivforschungen zeichnen Lebenslinien von Auswanderern nach, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus Österreich in die Wüste Kasachstans gelangten. 200 Migranten wollten in der Uhlfeld-Kolonie der Armut und Arbeitslosigkeit entfliehen – d
Wer in seiner Heimat wenig zu verlieren hat, lässt sich – vielleicht vorschnell – auf das Wagnis ein, sich in fernen Landen eine neue Existenz aufzubauen. In der Zwischenkriegszeit machten auch etliche Österreicher diese Erfahrung. Die Verzweiflung der Armut und Arbeitslosigkeit ließ sie nicht nur Richtung USA, Südamerika oder Australien aufbrechen, sondern auch in die Sowjetunion. Der junge sowjetische Staat war in den 1920er-Jahren bestrebt, seine Landwirtschaft zu modernisieren, und stellte daher ausländischen Fachkräften brachliegende Flächen zur Verfügung. Rund zwei Dutzend solcher Kolonien entstanden damals auf sowjetischem Territorium, drei davon in Kasachstan.
Fehlentscheidung mit Folgen
1926 gründete dort eine Gruppe von 200 österreichischen Auswanderern die sogenannte Uhlfeld-Kolonie, benannt nach ihrem Anführer, dem Sozialdemokraten Karl
Uhl. Die Wahl der Kolonisten fiel auf ein Siedlungsgebiet in der Nähe der damaligen kasachischen Hauptstadt, Ksyl-Orda – am Rand der Wüste Kysylkum gelegen, bewässert durch den Fluss Syrdarja und geprägt durch kontinentales Klima mit sehr heißen Sommern und sehr kalten Wintern.
Die Entscheidung sollte sich als Fehler herausstellen. Die Unfruchtbarkeit der Böden genauso wie interne Streitigkeiten führten bereits nach einem Jahr zur Auflösung der Kolonie. Wer bis dahin noch nicht nach Österreich zurückgekehrt war, entschied sich mehrheitlich, in Fabriken oder Bergwerken zu arbeiten. Rund ein Dutzend Kolonisten folgten dem Vorschlag der sowjetischen Behörden, eine Art Produktionsgenossenschaft (russisch: „Artel“) zu gründen. Sie schlossen sich zum Artel Solidarnost zusammen.
Etliche Schicksale der damaligen Auswanderer, von denen viele der zunehmenden Repression und Willkürherrschaft der Stalin-Zeit zum Opfer fielen, arbeitete nun der Slawist Josef Vogl auf. Indirekter Auslöser des Projekts war eine frühere Publikation des Autors – ein bereits 2013 (zusammen mit dem Historiker Barry McLoughlin) verfasstes Gedenkbuch der österreichischen Stalin-Opfer, in dem auch der Uhlfeld-Kolonist Rudolf Strach aufschien. Dadurch wurden dessen heute in Kanada lebende Nachkommen auf Vogl, den ehemaligen Mitarbeiter am Österreichischen Ost- und SüdosteuropaInstitut und am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, aufmerksam. Aus der Bitte um Informationen zum Schicksal ihres Verwandten wurden umfassende Recherchen, die schließlich durch den Zukunftsfonds der Republik gefördert wurden.
Das die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassende Buch „Aufbruch in den Osten“(Mandelbaum-Verlag, 320 Seiten; 29 Euro) beschreibt unter anderem die Lebensläufe etlicher namentlich genannter Auswanderer, auf deren Namen Vogl in den kasachischen Archiven stieß. Der Band geht auch auf die Schicksale in Kasachstan lebender und verhafteter Migranten ein, zudem auf Kriegsgefangene des Ersten Weltkriegs, die in Kasachstan verblieben; und nicht zuletzt auf österreichische Juden, die ab 1938 auf verschiedenen Wegen in die Sowjetunion gelangten und dort in der Folge oft verhaftet und in kasachischen Lagern interniert wurden.
Was jedoch die Auswanderer der 1920er-Jahre betrifft, so hätte wohl niemand von ihnen erahnen können, wie sich das Leben in der kasachischen Steppe gestalten und welche Wende es in der Sowjetunion der Stalin-Epoche nehmen würde. „Sie hatten keine Ahnung, was ihnen bevorsteht“, sagt Vogl. „Die meisten wären genauso gut nach Russland oder sonst wohin ausgewandert.“Wenn man in Österreich seit Jahren arbeitslos gewesen sei, lautete die Devise: Hauptsache auswandern.
Manche Auswanderer werden an die sowjetische Propaganda geglaubt haben.
Josef Vogl,
Slawist und Politikwissenschaftler