Die Presse

Gütiger Gott, wie fad mir ist!

Expedition Europa: Rijeka – Luxusjacht­en an der Promenade, Espressoba­rs `a la Italia.

- Von Martin Leidenfros­t

In den ersten Junitagen besuchte ich die europäisch­e Kulturhaup­tstadt Rijeka. Neben Seuchenang­st herrschte sieben Tage lang Regenwette­r, Touristen gabs keine, ich schlief allein im Hostel.

Als am Abend die Sonne herauskam, ging ich schwimmen. Dem Zentrum am nächsten – 30 Gehminuten – lag der eingezäunt­e Hundestran­d beim „Fun Hostel“. Ich marschiert­e an der Ausfallstr­aße weiter, stieg eine steile Steinstieg­e runter und hüpfte von einem winzigen Steinstran­d mit Pissgeruch ins tiefe nachtblaue Meer. Ich schwamm lange. Ich sah, wie sich ein Lockenkopf, drei Mädels und fünf Hunde auf einem Betonkai verlustier­ten, wie der Lockenkopf an die Betonwand pisste und im eigenen Pissgeruch Conan-der-Barbar-Yoga praktizier­te. Rijeka, fasste ich vorläufig zusammen, das sind Luxusjacht­en an der Promenade, Espressoba­rs a` la Italia, Sonnenunte­rgänge rechts von Istriens Berghöhen, alte Zinskasern­en mit nackten Hacklerbäu­chen auf filigranen Balkonen, und das ist Schwimmen zwischen der unberührt wirkenden Hotel-JadranKlei­nbucht und dem kleinen röhrenden Containerh­afen. Keine schlechte Mischung, dachte ich mir, und dazu so nah!

Anderntags ging ich zur öffentlich­rechtliche­n Firma, welche die Kulturhaup­tstadt organisier­t hat, in einen von Kreativen genutzten, einst zur Weinabfüll­ung errichtete­n Industrieb­au. Drinnen hingen Poster von Tito und Kim.

Vorstandsm­itglied Irena Kregar Segotaˇ hatte eine gute Nachricht: Nach der Eröffnung am 1. Februar lief es prächtig, doppelt so viele Übernachtu­ngen wie sonst, CNN war da. Außerdem wird der für 40 Millionen umgebaute Industriek­omplex „Benciˇc“´ bleiben, ab 2021 die neue Stadtbüche­rei und Titos ab 2021 als Museum angetäutes Schiff „Möwe“. Die schlechte Nachricht war, dass von 70 Mitarbeite­rn vor Corona nur zehn übrig blieben, die nicht zu schmeißen kommen, und dass das Budget „um ein Drittel“gekürzt wurde. Kregar Segotaˇ nannte ihr Rijeka ein „versteckte­s Juwel, zweieinhal­b Stunden von Venedig“, „eine verrückte Mischung von Industries­tadt und unberührte­n Stränden“, „du siehst beim Schwimmen die Werft“, „tolerant“. Am Gang von Delta 5 lagen zwei träge Hunde. Ich war ein wenig stolz, ich hatte Rijeka schon am Vorabend erfasst.

Protofasch­istisches Experiment

Ich konnte an jenem Donnerstag aus vier Hauptstadt­projekten wählen, drei davon waren Ausstellun­gen im Gouverneur­spalast. Ich ging in die Ausstellun­g über die 16 Monate, in denen der „Dichter, Abenteurer, Weiberheld und Krieger“Gabriele D’Annunzio sein Experiment eines protofasch­istischen Staates durchführt­e.

Die Ausstellun­g, welche die Ereignisse von 1919 bis 1920 aus der Sicht der kroatische­n Minderheit von Fiume/Rijeka erzählt, ist klein. Der Fokus liegt auf den „Fiumanki“genannten Rijekerinn­en italienisc­her Zunge, die D’Annunzio verehrten. Eine entbrannte „Ardita“schrieb: „Die Frau von Fiume ist nichts anderes als die Mutter der modernen Frau. Wir vernichten alles Vergangene. Freiheit, Rücksichts­losigkeit, Mut.“D’Annunzios Sexappeal erschloss sich mir nicht, auf dem einzigen Porträt ist er ein bleicher, aseptische­r, ganz in Uniformgrü­n gekleidete­r Jagdaufseh­ertyp.

Am 24. Dezember 1920 vertrieb die italienisc­he Regierung D’Annunzio, Fiume wurde für ihn zur „Stadt des Märtyrertu­ms und der verlorenen Liebe“. Die Ausstellun­g zeigt das Tagebuch der 21-jährigen Rijeker Kroatin Zora Blaziˇc,´ die allerdings zur Zeit des futuristis­chen Fiumer Frühfaschi­smus keine Einträge verfasste. Erst am 1. November 1920 schrieb sie: Wie tot diese Stadt ist seit

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