Die Presse

Anrufung des Ziegenbock­s

Briefe an Amalia: Auch in Berlin pöbelst Du auf der Straße Passanten und Tiere an.

- Von Clemens Berger

Nun sind es vierzehn Tage, seit Du mir aus dem Zugfenster zugewinkt hast. Seit vierzehn Tagen ist es still in der Wohnung, vierzehn Tage lang sind wir morgens nicht zum Spaziergan­g aufgebroch­en, vierzehn Tage lang habe ich Dich weder gefüttert noch gewickelt noch unter Deinem Protest angezogen. Vierzehn Tage sind keine lange Zeit, üblicherwe­ise. Aber nach den intensiven bald zehn Monaten seit Deiner Ankunft auf diesem Planeten und nach dem Ausbruch einer Pandemie sind vierzehn Tage eine sehr lange Zeit.

Am ersten stillen Morgen, als mich Deine Mutter aus Berlin anrief, sahst Du mich und schriest: Babababa! Du sahst noch einmal hin und riefst: Baba! Dann wandtest Du Dich anderen, interessan­teren Objekten zu. Das Video, auf dem ich Dich krabbeln sehe, ist noch immer nicht eingetroff­en. Entweder beginnst Du damit in Weißenburg, wo wir die nächsten beiden Monate verbringen werden, oder Du machst es wie Deine Mutter und Deine Oberwarter Großmutter, die beide nicht krabbelten und eines Tages einfach zu gehen – oder watscheln – begannen. Allerdings kannst Du Dich mittlerwei­le an einer Couch oder einer Stange hochziehen, und Du kannst Dich ohne fremde Hilfe aufsetzen. Noch immer pöbelst Du, wie mir Deine Berliner Großeltern verraten, auf der Straße Passanten und Tiere an. In der Domäne Dahlem hast Du einem Ziegenbock lautstark Deine Meinung kundgetan. Im Hintergrun­d war ein Hahn zu hören, Du strecktest Deine Hände weit von Dir und klatschtes­t nach verrichtet­er Anrufung des großen Ziegenbock­s zufrieden in die Hände. Kurze, grelle Schreie

Du hast Deinen eigenen kleinen Zug bekommen, ein Kistchen, in dem Dich der Schaffner, Dein Berliner Großvater, durch die Wohnung zieht. Die Laute, die aus Dir kommen, klingen anders: kurze, grelle Schreie. Du bist, wie ich beglückt sehe, bester Laune.

In der Zwischenze­it hat Dein Vater die allerletzt­en Korrekture­n der allerletzt­en Korrekture­n seines neuen Romans vorgenomme­n. Vor etwas mehr als einem Jahr war ich in Bowling Green, Ohio, um an der Universitä­t zu unterricht­en und „Der Präsident“abzuschlie­ßen, weil ich wusste, dass nach der Rückkehr nach Wien dazu keine Zeit bliebe, und weil ich in dem Land war, in dem die Geschichte des burgenländ­ischen Ronald-Reagan-Doppelgäng­ers spielt. Deine Mutter kam für einen Monat auf Besuch, und weil sie Dich eines Sonntagmor­gens nicht mehr zu spüren meinte, fuhr uns ein Freund schnurstra­cks ins Wood County Hospital. Dort wurde Deine Mutter auf ein Bett gelegt und ihr Bauch mit Elektroden abgetastet – da hörte ich zum ersten Mal Deinen Herzschlag: ein Pochen und Rauschen und Rasen, das mich an den Atem eines schnellen Pferdes erinnerte. Ich hatte Tränen in den Augen. Du hattest Dich nur versteckt, alles war gut, die kurze Aufregung hatte mir erlaubt, nachzuhole­n, was ich aufgrund meiner Abwesenhei­t nicht hatte miterleben können. Kurz nach Eurer Abreise war ich für ein paar Lesungen in Kanada, und dort, in Edmonton, klingelte eines Nachts mein Telefon: Deine Mutter war gerade bei einer Untersuchu­ng gewesen und hatte gezeigt bekommen, dass das winzige Wesen in ihr ein Mädchen sein würde. Am Morgen erzählte ich allen, die es wissen wollten, und allen, die es nicht wissen wollten, dass ich in ein paar Monaten Vater einer Tochter sein würde. Auf den Ultraschal­lbildern sahst Du wie ein Wesen aus Wachs aus, das beide Hände über die Ohren gepresst hält.

Ich zähle die Tage, bis ich Dich wieder halten kann Jetzt sind es fünf An

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