Michael Scharang: Das Ende des Geredes
Die Kunst künstlerischen Überlebens besteht darin, auf den Markt zu bringen, was der nicht will, ohne von ihm hinweggefegt zu werden. Niemals ist Literatur eine Bestandsaufnahme. Dieses langweilige Geschäft überlässt sie der Zeitgeschichtsschreibung.
aber immer wieder aus der Erzählung aus und wird, ohne dass die Romanpersonen verloren gehen, essayistisch. Die Figuren erörtern ihre Probleme, deren Hintergrund gesellschaftlicher Natur sind.
Goethes „Wilhelm Meister“ist der erste moderne Roman, der vorderhand letzte ist Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Beiden Werken ist eine großartige Konzeption eigen, der Entwurf einer Totalität der Gesellschaft, welche zwar von Stagnation und Niedergang bedroht ist, der aber auch die Möglichkeit einer Entwicklung zum Besseren innewohnt. Goethe wird im „Wilhelm Meister“nicht müde, der Leserschaft Ratschläge zu erteilen, dafür zum Beispiel, wie Obstbäume zu veredeln seien. Der Dichter als Lehrmeister der Gesellschaft.
Goethe musste erfahren, dass an einem solchen kein Bedarf war, was ihm zufolge getan werden sollte, verhallte. Was getan werden musste, bestimmte der Herzog von Weimar. Bürgerliche Aufklärung stieß an die Grenze feudaler Willkür, zerschellte aber nicht daran. Unverzagt machte Goethe Vorschläge, im Alter noch führte er den Jüngeren in den „Wahlverwandtschaften“vor Augen, dass das Schema, in welches die Gesellschaft die Beziehungen zwischen Mann und Frau presst, den Möglichkeiten menschlichen Lebens Hohn spricht.
Musil erwartet sich von der bürgerlichen Gesellschaft nichts mehr. Sein Mann ohne Eigenschaften ist es müde, den Möglichkeiten, welche in der Wirklichkeit schlummern, etwas abzugewinnen. Er versteigt sich zu der revolutionären Forderung, eine mögliche Wirklichkeit zu suchen. Und das in einem Roman. Also hat man kein Pamphlet zu erwarten. Die Erzählung entfaltet sich anhand eines Geflechts von Personen; die zentralen Figuren haben gute Gründe, vom Bestehenden nichts zu erwarten. Sie stehen nicht an der Spitze von Parteien, sind keine Revolutionsführer, was ihnen nicht das Recht nimmt, nach einer möglichen Wirklichkeit Ausschau zu halten. Das geschieht im Alltag, es vollzieht sich in Gesprächen – hier blüht der Essayismus, der Versuch, sich auf intelligente Weise gegen die Realität zu stellen.
Kunst, sagt Karl Kraus, ist das, was Welt wird, nicht was Welt ist. Literatur ist angesiedelt in der Gegenwart, findet aber in der Zukunft statt. Doch nicht in einer nebulosen. Gegenwart, das ist die Gesellschaft, wie sie ist, Zukunft ist die Gesellschaft, wie sie sein könnte. Niemals ist Literatur eine Bestandsaufnahme. Dieses langweilige Geschäft überlässt sie der Zeitgeschichtsschreibung, die in Faktenhuberei erstickt. Die Zeitgeschichtsschreibung dokumentiert alles, was ihr unterkommt, ohne Bewusstsein dessen, was sie tut. Literatur macht das Gegenteil: Basierend auf der Zeitgeschichte schreibt sie Geschichte. Sie geht aus vom Bestehenden und erzählt die Geschichte, wie jenes verändert werden kann.
Insofern ist Literatur politisch. Die beiden Momente, das politische und das sprachkünstlerische, machen Literatur aus. Eines für sich genommen, das politische, bleibt im Genre stecken und taugt im besten Fall zur Agitation. Das andere, das sprachkünstlerische, verkommt, auf sich gestellt, zur Wortspielerei, die sich damit brüstet, unpolitisch zu sein, in ihrem dekorativen Charakter aber reaktionär ist.
Literatur ist politisch, politische Literatur aber ist keine Literatur. Die alte Debatte über Literatur und Engagement erschöpft sich in der Forderung, Literatur habe politisch zu sein. Man begnügt sich aber nicht damit, den ehrenwerten Zweck zu erfüllen, agitatorisch und pamphletistisch zu wirken, sondern erklärt das Genre zur Kunst. Diese Debatte war und ist sinnlos.
Literatur ist Forschungsarbeit. Die Philosophie deutet die Welt, die Wissenschaft analysiert sie, die Kunst stellt sie dar. Die Forschungsarbeit der Literatur besteht darin, die Welt zu gestalten; sie zu beschreiben, abzubilden – zu dokumentieren, was ist –, wäre zu wenig. Das trifft auch auf die Malerei zu. Gestaltung bewegt sich weg von dem, was ist, zu dem, was sein soll. Literatur allerdings ist die einzige Kunst, welche den Satz Kunst ist die Darstellung der Welt rem analytischen Instrumentarium in ihre Forschungsarbeit ein. Was diese Ansammlung von Disziplinen zusammenhält, ist der Kunstanspruch. Je mehr Elemente, gewissermaßen Fremdkörper, Literatur in sich aufnimmt, desto höher muss ihr Kunstanspruch sein. Dabei geht es nicht um einen schönen Text, sondern um die Schönheit des Textes.
Maßstab ist die Sprache, sie verhilft dem Inhalt, dem Stoff, zur bestmöglichen Form. In der Kunst ist die Form der Inhalt. Literatur kommt zur höchsten Blüte im Werk von Karl Kraus, der schon deshalb kein Romancier war, weil er den Roman ablehnte – in diesem dominiere der Stoff auf Kosten der Sprache. Kraus war kein Erzähler und schrieb doch die schönste und tiefste Prosa. Er bewegte sich als großer Dichter außerhalb der Dichtung.
Nach Hitlers Machtergreifung schrieb Karl Kraus: „Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen, und wenn ich, bevor ich es wäre, mich gleichwohl nicht begnügen möchte, so sprachlos zu scheinen, wie ich bin, so gehorche ich dem Zwang, auch über ein Versagen Rechenschaft zu geben, Aufschluss über die Lage, in die mich ein so vollkommener Umsturz im deutschen Sprachbereich versetzt hat, über das persönliche Erschlaffen bei Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur, die heute alles beherrscht außer der Sprache.“
Diesem Satz aus der „Dritten Walpurgisnacht“gehen ähnliche voraus, ähnliche folgen ihm. Er ist kein Einzelfall, obzwar es angesichts der großartigen Verflechtung zahlreicher Themen zu einem kleinen Kunstwerk so scheinen könnte. Andrerseits: Jeder Satz dieses Werks ist ein Einzelfall. Der Autor sagt, die Nazidiktatur beherrsche alles außer der Sprache. Das Verhältnis von Karl Kraus zur Sprache ist weit davon entfernt, sie beherrschen zu wollen. Diese Eigenschaft ist nur das Fundament, auf dem der künstlerische Umgang mit Sprache aufbaut.
„Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen, und wenn ich, bevor ich es wäre . . .“Bevor ich es wäre? Eine geniale Verkürzung des Umstands, dass der Autor zu befürchten hat, von den Nazis tatsächlich vor den Kopf geschlagen zu werden. Weiter. „. . . und wenn ich . . . mich gleichwohl nicht begnügen möchte, so sprachlos zu scheinen, wie ich bin . . .“Nie ist der Ohnmacht des Einzelnen angesichts diktatorischer Herrschaft mächtiger entgegengetreten worden.
Der Satz geht so zu Ende: „. . . so gehorche ich dem Zwang, auch über ein Versagen Rechenschaft zu geben, Aufschluss über die Lage, in die mich ein so vollkommener Umsturz im deutschen Sprachbereich versetzt hat, über das persönliche Erschlaffen bei Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur . . .“Erweckung und Aufrichtung, die Schreckenswörter, stehen hier als geschwisterliches Paar. Keine Erweckung ohne Aufrichtung und umgekehrt. Kraus meidet die übliche Formulierung Er
richtung einer Diktatur als zu schwach.
Bläht das gesellschaftliche Ganze sich zu ungeahnter Größe auf – Erweckung einer Nation –, schrumpft das Individuum zur Bedeutungslosigkeit. Das Ganze ist das Unwahre. Dem Triumph des Ganzen entspricht das persönliche Erschlaffen des Einzelnen. Die Übermacht des Unwahren entmutigt den Einzelnen, die Wahrheit auszusprechen. Was bleibt, ist ein Rest an Mut, nicht mehr, nicht weniger. Karl Kraus nutzt diesen Rest.
Literatur, lehrt er uns, braucht Schriftsteller, die ein klares Bewusstsein vom Zustand der Gesellschaft haben. Musste man in der Diktatur um sein Leben bangen, so wird in nachdiktatorischen Zeiten die Existenz des Schriftstellers und Intellektuellen ökonomisch bedroht. Der freie Markt verfährt mit dem freien Künstler nach Belieben. Ein klares Bewusstsein vom Zustand der Gesellschaft zu haben heißt auch eine kann, ohne zur Selbstzensur zu greifen. Die ist ohnedies ein schlechter Ratgeber, da sie nach dem Markt schielt, in der Irrmeinung, dieser sei eine Instanz, welche bestimmte Inhalte verlangt. Der Markt sagt aber nicht, was er will, sondern was er nicht will. Die Kunst des künstlerischen Überlebens besteht darin, auf den Markt zu bringen, was der nicht will, ohne von ihm hinweggefegt zu werden.
Bleibt die Frage an den Romancier, wie zu arbeiten sei, nachdem Karl Kraus dem Roman attestiert hat, in ihm dominiere der Stoff über die Sprache. Die Antwort ist einfach. Nach Karl Kraus sind an den Roman andere Maßstäbe anzulegen. Dieser hat ein Werk der Sprachkunst zu sein, in dem es auf jeden Satz ankommt, jeder Satz gelingen muss. Ein misslungener Satz, und das Ganze bricht zusammen.
Dazu kommt Musils Forderung nach einer intelligenten Literatur. Die Voraussetzung dafür: dass der Schriftsteller kein Trottel ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Die Szene ist voll von Originalgenies, die stolz verkünden, nichts zu sagen zu haben. Dies ist das Entree in den Markt. Dem entgegen steht die Forderung nach intelligenter Literatur. In ihr wird die Welt erforscht und eine neue Gesellschaft konzipiert. Nicht in einem großen Programm, sondern in jedem Satz. Das macht diese Literatur witzig und unterhaltsam. Musils „Mann ohne Eigenschaften“wird außer in Österreich und Deutschland, wo er als schwierig gilt, als äußerst unterhaltsam geschätzt.
Musils Essayismus ähnelt in seiner gedanklichen Dichte und sprachlichen Brillanz den Texten der „Dritten Walpurgisnacht“. Befreit sich der Roman wie bei Musil vom Genre, steuert er unweigerlich auf Sprachkunst zu. Musil und Kraus haben einen Anfang gemacht und die Literatur in ungeahnte Höhen geführt. Heute steht man immer noch an diesem Anfang, staunend und lernend.
Die Meister, unterhaltsam und witzig, setzen, was den Witz anlangt, einen hohen Maßstab. Karl Kraus zeigte, dass der Witz nicht nur das Gegenteil des Humors ist, sondern dessen Todfeind. Goethe war humoristisches Erzählen unerträglich. Humor ist der Witz im Zustand von dessen Agonie. Der Humor versöhnt die Gegensätze auf schmierige Weise, der Witz spitzt sie zu. So nennt er zum Beispiel Kultursender geistige Zentren des Ungeistes. Der Witz zwingt zusammen, was mit allen Mitteln zweierlei sein will – das geistige Zentrum will dem Geist verschwistert sein, den Zwillingsbruder Ungeist verleugnet es. Der Witz bringt die Verhältnisse ins Lot. Der Schriftsteller, dem es an Witz gebricht, der aber zunächst noch vor dem Humor zurückschreckt, rettet sich in die Pointe. Ist der Mangel an Witz so groß, dass der Schriftsteller witzig sein muss, ergibt das eine pointenreiche Literatur, die an Geistlosigkeit nicht zu überbieten ist.
Literatur, die sich auf Sprachkunst zubewegt, muss achthaben, nicht in die Falle des Aphorismus zu tappen. Der Aphorismus ist ein Kind der Sprachkunst, jedoch ein in seiner Entwicklung zurückgebliebenes, das nur sich selbst kennt. So ein Schriftsteller ist an Sprachkunst zwar interessiert, will sie aber nicht verwirklichen, sondern mit ihr glänzen. Er ist gefangen in seiner sprachlichen Selbstverliebtheit.
Unlösbar für die Literatur ist die Frage des Stils. Stil ist Zwang. Das Barock war die erste Epoche, welche einem totalen Stildiktat unterlag. Große Kunst versuchte, sich davon freizuhalten – zur Gänze gelang ihr das nie. Heute wird von der Literaturkritik der Stil eines Autors gerühmt, wenn es um die dümmliche Wiederholung bestimmter Stilelemente geht. Bei besonders penetranter Wiederholung spricht man von der Musikalität des Autors.
Das Problem liegt tief. Anzustreben ist, dass der Künstler, indem er sich verwirklicht, hinter das Werk tritt. Dieses Bemühen wird konterkariert von dem Umstand, dass der Künstler an den Stil seiner Zeit gebunden bleibt, auch wenn er sich ihm nicht unterwirft. Der Versuch, Stillosigkeit zu demonstrieren, eine Lieblingsbeschäftigung der Postmoderne, ist nichts anderes als das Fortleben des Zwangs verkleidet als