BARBARA BONGARTZ
In seinem Roman „Haus der Namen“stellt Colm Toib´´ın seine Version der Orestie vor: Bei ihm werden die altbekannten Träger des Tragischen zu Individuen. Auf diese Weise entfaltet der irische Autor eine verblüffend aktuelle Sicht auf das Geschehen.
Geboren 1957 in Köln. Filmwissenschaftlerin. Freie Autorin. Lebt in Berlin. Zuletzt, bei Weissbooks, Zürich: der Roman „Die Schönen und die Reichen“.
Es ist ein heftiges, zorniges, grausames Buch, das der so sensible Autor Colm Toib´´ın dem Leser entgegenwirft, ein Roman, der nichts von der Zärtlichkeit seines „Brooklyn“hat, nichts von der Melancholie, die das „Porträt des Meisters in mittleren Jahren“bestimmt.
Im „Haus der Namen“ist das alte Gleichgewicht zerbrochen. Seit Agamemnons Entschluss, die Tochter der Gunst der Götter zu opfern, geistern Rache und Hass durch die Gänge des Palastes, und die, die den Ort unwillentlich/willentlich verlassen, tragen den Spuk in die Welt: Agamemnon, das Familienoberhaupt, das seine Tochter Iphigeneia auf die Schlachtbank legt, Klytaimnestra, ihre Mutter, die ihre Liebe zur Tochter über die Unterwerfung unter die Götter setzt, Orest und Elektra, die verwirrten Geschwister, die Zeugen ihrer zerbrechenden Familie werden und aus den Machtverschiebungen ihre je eigenen Schlüsse ziehen.
Mit seinem Roman stellt uns Colm Toi-´ b´ın seine Version der „Orestie“vor und entfaltet mit ihr eine verblüffend aktuelle Sicht auf das Geschehen mit den altbekannten Figuren. Sie werden von Trägern des Tragischen zu Individuen. Nicht mehr das Ziel der attischen Tragödie steht im Vordergrund, sondern der einsame, auf sich selbst zurückgeworfene Mensch. Unmerklich fast legt der Autor ihm etwas in die Hände, das ihm unbekannt ist: Verantwortung.
Schon einmal hat Toib´´ın eine alte Geschichte aus neuer Sicht erzählt. In „Marias Testament“gibt er der Frau und Mutter Maria eine eigene Stimme, ihre Haltung wird zur Selbstbehauptung, das Vorbild aus dem Neuen Testament verblasst zur Pappfigur. So wie dort bringt Toib´´ın auch im neuen Roman die Akteure zum eigensinnigen Sprechen – und Fehlen. Dem allseits bekannten Drama entsteigen die Figuren wie Untote aus ihren Särgen und reklamieren ihre Geschichte und ihr Recht auf subjektives Erleben für sich: Sie treten ein in den Kampf um das Schicksal, den Urheber der attischen Tragödie, dessen Macht mehr und mehr schwindet, wie auch der Respekt der handelnden Personen gegenüber den Göttern.
Toib´´ıns Romanfiguren agieren selbstständiger als ihre tragischen Vorbilder, da sie die Gesetze der Götter in Zweifel ziehen. Toib´´ıns Version gibt den Protagonisten ihre Geschichte zurück; aus dem Drama wird ein Roman, dessen Handlung und Verlauf trotz der bestens bekannten Vorlagen nicht mehr abzusehen sind. Seine Erzählung gewinnt dadurch ihre fast atemlose Spannung. Über dem ganzen Roman liegt schauderhaft der
„Geruch des Todes“. Um zu Akteuren, zu „sich selbst“zu werden, müssen die Personen nicht nur wie in einem Initiationsritus einen imaginären oder tatsächlichen Gegner vernichten – sie müssen auch dafür einstehen. Das ist ihre einzige Chance im Übergang in eine sich wandelnde Epoche. „Wir leben“, sagt Elektra, „in einer seltsamen Zeit, in der die Götter verblassen. Manche von uns sehen sie noch, aber es gibt auch Zeiten, wo uns das nicht mehr gelingt.“
Langsam, wie in einer Dämmerung, die von einer Person an die nächste weitergereicht wird, verdeutlicht sich im Nebel der sich verändernden Welt, dass die Macht der Götter menschengegeben war. Nur durch den Glauben an sie konnten jene „regieren“, und jetzt, da die Menschen sich aufbäumen gegen das Opfer, ihr „Schicksal“, wie Klytaimnestra es als Erste tut, gerät die „alte“Ordnung ins Wanken. „Bald wird die Welt eine andere sein“, fährt Elektra fort, und ahnt damit die aufkeimende Selbstverantwortung, der sie sich allerdings weit besser zu stellen weiß als der viel weichere, zaudernde Orest. Riss zwischen alter und neuer Welt
Toib´´ın, der großartige Erzähler, lässt in der Haltung dieser Elektra den Riss zwischen der alten und der neuen Welt als riesigen schrecklichen Abgrund klaffen, über den es keine Brücke gibt. Sie verlieren „ihre“Götter und damit nicht nur die Ausweglosigkeit, sondern auch die Geborgenheit eines vorherbestimmten Schicksals. Was sie gewinnen, wissen sie nicht. In dieser Geschichte um eine im Streit um Göttergehorsam sich zersetzende Familie trennt sich das Personal in leidende und die Herausforderung annehmende Akteure. Diejenigen, die die Handlung vorantreiben, Intrigen spinnen, Verantwortung übernehmen, Leute hinter sich versammeln, Konflikte anzetteln: die längst schon „Gottlosen“, aus dem Traum der Vorbestimmung Erwachten sind Aigisthos, der Gefangene, der nach Klytaimnestras Mord an Agamemnon ihr Geliebter wird und einen neuen Krieg anzettelt, Leandros, der seinen Freund Orest verraten und Aigisthos die Macht aus den Händen neh genschaften verteidigt und mit Leandros gegen den eigenen Bruder paktiert.
In die mehr als zehn Jahre überspannende Handlung an verschiedenen Schauplätzen, die von Iphigeneias Opferung über mehrere Kriege, die Entführung der Jungen, neu aufbrechende Konflikte, der Auslöschung ganzer Sippen, der Einrichtung eines Scherbengerichts, in der die ersten Schimmer neuer Rechtsprechung aufflackern, bis zur Neuordnung der Machtverhältnisse in Agamemnons Palast reicht, hat der Autor Nischen täglichen Lebens eingestreut. Da die einzelnen Teile des Romans jeweils aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen blicken, wird die Leserin Zeugin diverser Blickwinkel, Gefühlswelten, Standpunkte. Sie lassen das Mädchen Elektra zur Frau werden, beleuchten die Machenschaften, Liebschaften und Lüste im „Haus der Namen“, erzählen von Freundschaft, Entfremdung, Sexualität und Zwist.
Nicht nur Elektra wird durch ihr Verhältnis zu den Göttern, den Trümmern ihrer Familie, der Furcht vor der neuen Zeit und ihrem widersprüchlichen Verhalten charakterisiert. Auch Orest und Leandros, der nun die Führung übernimmt und sich dadurch Elektras Zorn zuzieht, werden bestimmt durch ihre je eigene Sicht auf ihr sich veränderndes Umfeld, das sie selbst mitgestalten. Der Roman löst sich durch die Aufgliederung in personale Erzählstränge weit von seinen Vorlagen; mehr als einmal hat man den Eindruck von Verweisen auf Kriege und Bürgerkriege der Gegenwart.
Im offenen Ende der nur durch eine Geste sich andeutenden Aussöhnung zwischen Orest und Leandros, dem ehemaligen Liebespaar, erklärt sich überzeitliche Weisheit. Die unvermeidbaren Konflikte und Widersprüche sind Teil der menschlichen Natur. Wie sie verarbeitet werden, liegt in der Verantwortung der Akteure, ob diese wollen oder nicht. Keine höheren Wesen mehr, die befehlen. Mit seiner Nacherzählung des antiken Stoffs macht Toib´´ıns Roman einen riesigen Sprung über das Mittelalter hinweg in die Gegenwart. Die erstaunlichen Parallelen zur aktuellen Weltlage erklären die hilflosen