Journalismus für den Kopf, soziale Medien für das Gefühl
Leitartikel. Das Ende des neutralen, also objektiven Journalismus wird soeben ausgerufen. Dabei ist dieser kühle Journalismus gerade in Krisen so wichtig.
Guter Journalismus muss sich nicht erklären. Guter Journalismus erklärt sich von selbst. Diese selbstbewusste und beruhigende Weisheit stimmt nicht mehr. Mit der wachsenden Bedeutung der sozialen Medien, in und auf denen jeder Journalist spielen kann, war es mit der ohnehin überschätzten Hegemonie klassischer Medien vorbei. Von den jeweiligen Rändern des gesellschaftspolitischen Spektrums aus frisst sich das Misstrauen gegenüber der vermeintlichen Deutungshoheit in Richtung Mitte. Unter dem Schlachtruf „Fake News“und mit breiter Manipulation von Inhalten auf sozialen Medien wurde nicht nur Donald Trump Präsident, sondern Staaten wurden destabilisiert und Gesellschaften beeinflusst.
Die einzig logische Konsequenz daraus ist, noch stärker auf die Regeln des Qualitätsjournalismus zu setzen, also auf die strikte Trennung von Information und Kommentar, auf das alte, wichtige Ringelspiel Check, ReCheck, Double-Check, auf vollkommene Transparenz, so diese nicht dem Quellenschutz widerspricht, und auf unseren Grundsatz „Audiatur et altera pars“, also auch immer die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Medien wie „Die Presse“versuchten und versuchen das täglich zu bewerkstelligen. Mitunter gelingt dies nicht, was einzugestehen ist, denn genau das ist ein weiteres Antidot gegen Verschwörungstheorien und Lügenpresse-Vorwürfe: Fehlerkultur und Selbstkritik.
Doch nun kommt dieses Selbstverständnis weiter unter Druck, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung, aber mit einer nicht unähnlichen Intoleranz für andere Standpunkte. Ausgelöst wurde die jüngste Debatte durch einen äußerst kontroversiellen Gastkommentar von Tom Cotton, einem republikanischen Senator und ausgewiesenen Trump-Anhänger, den die „New York Times“veröffentlicht hatte und in dem dieser unter dem Titel „Send in the Troops“mit der „Black Lives Matter“-Bewegung abrechnet und die auch von Trump verbreitete Idee, das Militär gegen die Demonstranten einzusetzen, vertritt. James Bennet, respektierter Chef des Debatten-Ressorts, das vom Rest der Redaktion durch eine zur Chinesischen Mauer kultivierte Distanz entfernt ist, rechtfertigte den Abdruck mit der Notwendigkeit einer möglichst breiten Meinungsvielfalt auf den Seiten der Fremdtexte. Doch unter dem massiven Druck von innen wie außen musste er gehen. „Spiegel“-Autor Philipp Oehmke nahm dies zum Anlass, mit dem eingangs beschriebenen Idealbild des Journalismus, wie nicht wenige seiner Kollegen in den USA und Europa, abzurechnen: „Neutralität galt jahrzehntelang als Qualitätsmerkmal, als noble Erhabenheitsgeste der seriösen Presse. (. . .) Der Neutralitätsjournalismus, der scheinbar von einer ,Position aus dem Niemandsland‘ kommt, wie es der New Yorker Medienforscher Jay Rosen bezeichnete, wirkt heute nicht nur uninteressant und unaufrichtig. Er versagt vor allem in seinem Auftrag als ,vierte Gewalt‘.“
Donald Trumps Wahlsieg habe quasi bewiesen, dass man „Propaganda, Verschwörungstheorien und Hassreden“nicht die kühle Wange der Klarstellung hinhalten, sondern den Behauptungen und ihren Herolden erst gar keinen Platz einräumen dürfe. Andere Kollegen argumentieren schon länger in der Linie Oehmkes und fordern einen „anwaltlichen“Journalismus, der sich mit Herz und Haltung gegen Unrecht einsetzt. Das umstrittene Zitat von Hanns Joachim Friedrichs, „Guten Journalismus erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, dass er überall dabei ist und nirgendwo dazugehört“, klingt alt.
So altmodisch dieser Satz klingen mag: Diese Zeitung wird ihn weiterhin befolgen, gerade in schwierigen Zeiten wie in den vergangenen. In der heutigen Ausgabe finden Sie zwei Dokumentationen über unsere Arbeit der vergangenen Wochen, unser Corona-Spezialist Köksal Baltaci resümiert, wie sich der allgemeine Wissensstand während der Pandemie verändert hat, die Rechtspanorama-Fachleute Philipp Aichinger und Benedikt Kommenda legen eine akribische Chronologie vor, wie es sich mit dem Rechtsstaat in der Covid-Zeit verhielt. Stimmt, diese Kollegen haben auch während dieser Monate geschrieben und analysieren somit auch die eigene Arbeit.
Zuletzt darf ich an dieser Stelle ein Unbehagen formulieren, das gerade den österreichischen Journalismus betrifft: Das Privatleben von Politikern und Prominenten galt im Gegensatz zu Yellow-Press-Ländern wie Großbritannien immer als Tabu, was der publizistischen Kultur nicht geschadet hat. Der Persönlichkeitsschutz wurde ernst genommen. Ein Beispiel: Der Führerscheinentzug einer pensionierten (!) Höchstrichterin und Kurzzeit-Politikerin wegen Überschreitens der Promillegrenze sollte nicht breit berichtet werden. Da werden von mehreren Medien rote Linien überschritten. Was Österreich nicht transparenter, sondern rauer, geifernder macht.