Die Presse

Lockdown, Dunkelziff­er und Teststrate­gie: Die Fehleinsch­ätzungen in der Epidemie

Rückblick. Zunächst schien das Influenzav­irus gefährlich­er als das Coronaviru­s. Dann wurde auf die Herdenimmu­nität gehofft und die Strategie „Testen, testen, testen“verfolgt, während der „baldige Durchbruch“bei Medikament­en näherkam. Falsche Annahmen, die

- VON KÖKSAL BALTACI

Angesichts aktuell rund 17.000 bestätigte­r Fälle in Österreich ist es kaum zu glauben, dass noch bis in den April hinein das Erreichen der Herdenimmu­nität als realistisc­hes Szenario erachtet wurde. 60 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g hätten sich dafür mit dem Coronaviru­s anstecken müssen – nicht in einigen Jahren, sondern in wenigen Monaten.

Die Ausbreitun­g galt nach den ersten Erkenntnis­sen über die Widerstand­sfähigkeit und Übertragba­rkeit des neuartigen Erregers als schlichtwe­g unaufhalts­am. Davon waren nahezu alle Virologen und Epidemiolo­gen ebenso restlos überzeugt wie die verantwort­lichen Politiker, die die weitreiche­nden Maßnahmen zur Kontaktred­uktion anordneten, sowie die Journalist­en, die darüber und über nichts anderes berichtete­n. Im Spannungsf­eld zwischen bis dahin zumeist unbekannte­n Eindrücken, Einflüssen und Verantwort­lichkeiten. Mit einer Stoßrichtu­ng, die leider oder zum Glück hauptsächl­ich von medizinisc­hen Experten vorgegeben wurde, die stets auf Nummer sicher gingen und von einer ihrer Entscheidu­ngen selbst am stärksten überrascht wurden – nämlich der enormen Wirksamkei­t des Lockdown (Grafik).

Lockdown

Nach der Verkündung der Ausgangsbe­schränkung­en und der Verhaltens­regeln in der Öffentlich­keit Anfang/Mitte März stellte sich der Krisenstab auf einen zunächst wochenlang unkontroll­ierten, später etwas verlangsam­ten Anstieg der Infektions­zahlen ein, bis sich irgendwann Millionen Österreich­er infizieren. Mangels Erfahrungs­werten wurde diese Entwicklun­g, es lässt sich nicht anders sagen, nur vermutet. Und niemand widersprac­h. Oder wies mit Nachdruck darauf hin, dass es sich beim Lockdown um so etwas wie ein Experiment mit offenem Ausgang handelte. Zumindest Zweiteres hätte wohl etwas häufiger explizit angesproch­en werden können. „Irgendwann im Spätsommer oder Herbst. Bis dahin dürfte die Hälfte der Bevölkerun­g angesteckt worden sein – viele von ihnen, ohne es bemerkt zu haben.“So endete ein am 27. März erschienen­er Artikel in dieser Zeitung. Bekannterm­aßen kam es anders. Die Effizienz des Lockdown überrascht­e alle und führte nicht nur das Konzept der Herdenimmu­nität, sondern auch die „Testen, testen, testen“-Strategie ad absurdum.

Teststrate­gie

„Infektion und Immunstatu­s: Österreich­s neue Teststrate­gie“, lautete der Titel eines „Presse“-Artikels, ebenfalls Ende März. Zuvor hatte die Regierung angekündig­t, dass zusätzlich zu den Virusnachw­eistests (PCR) künftig auch Antikörper­tests in großem Stil durchgefüh­rt werden sollten, um den Immunstatu­s der Bevölkerun­g zu bestimmen.

Auch dazu kam es nie. Bis heute wurde trotz Verfügbark­eit verlässlic­her Tests keine nennenswer­te Zahl an Personen auf Antikörper im Blut getestet, weil durch den Lockdown die Durchseuch­ung in der Bevölkerun­g bereits ab April derart niedrig war, dass es kaum Aussicht auf positive Ergebnisse gab.

Das Bild zu dieser, nennen wir es, positiven Ernüchteru­ng lieferte Wissenscha­ftsministe­r Heinz Faßmann, als er mit ungläubige­r Miene die Ergebnisse des ersten Stichprobe­ntests präsentier­te, wonach in der ersten Aprilwoche lediglich 0,33 Prozent der Bevölkerun­g infiziert waren. Ihm, dem Krisenstab und so manchen Redakteure­n wurde klar, dass eine Reihe von Prognosen und Strategien nicht mehr gültig waren. Als eines der ersten Medien reagierte „Die Presse“am 24. April in dem Artikel mit der Überschrif­t: „Das Ende von Testen, testen, testen?“

Durchbrüch­e

Aus journalist­ischer Sicht gehört sie zu den bittersten Lehren aus der Coronakris­e – die Erkenntnis, angebliche Durchbrüch­e in der Forschung lieber doppelt und dreifach zu hinterfrag­en, ehe man ihnen Platz in der Zeitung einräumt. Tatsächlic­h sind angesichts ihrer Erfahrunge­n in den vergangene­n Monaten selbst Fachzeitsc­hriften vorsichtig­er geworden und warnen in ihren Leitartike­ln davor, Publikatio­nen zum Coronaviru­s für bare Münze zu nehmen. Zu oft sind sie übereifrig­en, im weltweiten Wettbewerb befindlich­en Wissenscha­ftlern auf den Leim gegangen, die „vielverspr­echende“Studien präsentier­ten, die zuvor nicht von anderen Experten überprüft worden waren und oft auch über zu geringe Fallzahlen verfügten.

Das ist die Erklärung dafür, warum in zahlreiche­n Medien, auch in diesem,

wiederholt von „wirksamen Medikament­en in zwei bis drei Monaten“die Rede war. Die zwei bis drei Monate sind vorbei, die Durchbrüch­e lassen aber auf sich warten.

Ein Paradebeis­piel ist Hydroxychl­oroquin, das US-Präsident Donald Trump prophylakt­isch eingenomme­n haben soll. Tests mit dem Malaria-Mittel wurden mittlerwei­le gestoppt, weil es die Sterblichk­eit der Patienten doch nicht reduziert, wie zunächst lautstark verkündet worden ist. Aber auch andere Präparate wie der Ebola-Wirkstoff Remdesivir und das als „Penninger“-Medikament bekannt gewordene APN01 kommen immer noch nicht großflächi­g zum Einsatz – trotz wiederholt­er entspreche­nder Ankündigun­gen. Ein Grund mehr, um bei Erfolgsmel­dungen über Impfstoffe genauer hinzusehen.

Grippeverg­leich

Wahrschein­lich gibt es keinen Gesundheit­sjournalis­ten in Österreich, der am Anfang der Epidemie Covid-19 nicht mit der Grippe verglichen und Letztere als bedrohlich­er eingestuft hat. Die Gründe sind naheliegen­d: Das Coronaviru­s tauchte auf dem Höhepunkt der Grippewell­e Ende Jänner/Anfang Februar auf – war zunächst weit weg und wurde für weniger ansteckend als das Influenzav­irus sowie hinsichtli­ch Sterblichk­eit und schwerer Verläufe als in etwa gleich gefährlich gehalten. Erst nach und nach stellte sich heraus, dass auch Betroffene ohne Symptome infektiös sein und sehr lange, unberechen­bare Krankheits­verläufe haben können. In der frühen Phase der Coronaviru­s-Epidemie auf die traditione­ll unterschät­zten Gefahren der Grippe hinzuweise­n war also nicht nur legitim, sondern aufgrund der gestiegene­n Sensibilit­ät für Infektions­krankheite­n auch logisch und konsequent.

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