Heimelige Demos, lässige Restaurants, strenge Kultur
Wann beginnt die Covid-19-Schlacht am Theaterbuffet? Bisher verhalten sich die meisten Besucher offenbar vorbildlich. Die Sitten werden lockerer. Man sitzt wieder enger.
Zum ersten Mal seit gut drei Monaten (aber gefühlt ist es fast schon eine ganze Saison) ging die Neigungsgruppe „Tragikomödie“diese Woche tatsächlich ins Theater. In ein kleines Haus, so viel Herausforderung darf selbst beim angeblichen Abklingen der Pandemie schon sein.
Wir zogen uns feierlich an, hatten auch ans Schnäuztuch gedacht und fixierten den eigenhändig aus Damast gebastelten Mund- und Nasenschutz sorgfältig. Schon der Einlass wurde zum Abenteuer: Auf die Minute genau gab es für jeden Besucher ein Zeitfenster, um hereingebeten zu werden. Fieber wurde zwar nicht gemessen, aber alle Signale vermittelten: Dort unten im Keller lauert Gefahr!
Kann es sein, dass fahrendes Volk stets zum Melodram neigt? Die Distanz zwischen den Zusehern hatte dann zwar nicht das Ausmaß eines Babyelefanten, aber auf Armlänge entfernt zum Nachbarn saßen alle sicher. Und weil gut gespielt wurde, war die Coronapest bald vergessen.
Der Abend verlief, wie es in der Vorwoche hier im Gegengift erwartet und zum Teil sogar gefordert worden war: Keine Pause, und nach 83 Minuten war Schluss. Das halten unsere Fanklubs Melpomene und Thalia für ideal. Beherzigen Theaterleute tatsächlich Ratschläge in dieser Kolumne? Dann soll hier auch einmal vermerkt werden, dass Kritiker (ohne dass dies ihre Bewertung wesentlich beeinflussen würde) den pünktlichen Beginn der Aufführung schätzen.
Aber heute geht es nicht nur ums Theater in der Virenkrise, sondern um den Abstand an sich. Er scheint sich durch die Macht der Gewohnheit rapide zu verringern, nicht nur bei Demos. In der U-Bahn, in Bussen und Straßenbahnen ist die Ansteckungsgefahr wohl am größten. Dort herrscht inzwischen lässige Sorglosigkeit, wohl deshalb, weil man diese Verkehrsmittel täglich nutzt und selbst auf dem Höhepunkt der Krise nicht auf sie verzichten konnte. In einigen Gaststätten musste man bis vor einer Woche noch darauf warten, einen Platz zugewiesen zu bekommen, nun werden die Sitten lockerer.
Man sitzt wieder enger. Wer dann nach einer geselligen Runde statt öffentlich mit dem eigenen Auto nach Hause fährt, angeblich um die Ansteckungsgefahr zu minimieren, belügt sich doch bloß selbst. Wird demnächst auch wieder vor dem Eingang der Oper, trunken nach Musik, um Karten gerauft? Wann beginnt die Covid-19-Schlacht am kalten Buffet?
Der Mensch lebt mit Gewohnheiten. Strenge Maßnahmen unterbrechen sie meist nur kurz. Viele Leute beginnen schon wieder, ihnen Nahestehende herzlich zu umarmen, obwohl niemand darauf vertrauen kann, dass die keine Virenverbreiter sind. Insofern dürften strenge Kellertheater derzeit die sichersten Orte sein.
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