Dieser Jurystreit ist nicht virtuell!
Literatur. Juroren, die sich aus der Ferne in die Haare geraten, eine 80-jährige Teilnehmerin und der Text eines Computers: ein Zwischenbericht zum Bachmann-Wettlesen.
Die bunten Liegestühle im Lendhafen in Klagenfurt, mit Bachmann-PreisLogo drauf, versprühen Zweckoptimismus: Ja, es findet statt, das Wettlesen, Corona zum Trotz! Die überschaubaren Public Viewings freilich sind schon das Einzige, bei dem heuer so etwas wie ein kollektives Erleben aufkommt. Das ORF-Theater ist verwaist, die Juroren sind verstreut auf Berlin, Zürich, Wien, Graz und Bamberg, ganz zu schweigen von den 14 Autoren. Sie lesen seit Donnerstag in vorbereiteten, nach üblichem Zeitplan gesendeten Videos, über Liveschaltung erfolgen nur die Jurydiskussionen.
Eines haben diese heuer jedenfalls klar gemacht: Zanken können Juroren sich über Video genauso gut – ja, im Vergleich zu früheren Jahren ging es an den ersten zwei Lesetagen, die ohne klare Favoriten endeten, sogar besonders heftig zu. Dafür sorgte vor allem ein Neo-Juror, der deutsch-schweizerische Autor Philipp Tingler, mit seinen (meist vernichtenden) Aussagen – aber auch weil er mit häufigen Unterbrechungen seine Kollegen nervte.
Nicht nur wegen der Art ihrer Austragung haben diese Tage der deutschsprachigen Literatur historische Qualität. Noch nie gab es eine so betagte Teilnehmerin wie heuer. Noch dazu eine, die 40 Jahre, nachdem sie aus politischen Gründen daran gehindert wurde, in Klagenfurt zu lesen, nun doch noch auftrat. Speziell ihr hätte man einen Wettbewerb mit realen Begegnungen gewünscht. Die 80-jährige Helga Schubert durfte 1980 nicht aus der DDR ausreisen, dafür war sie von 1987 bis 1990 in der Jury. Die jetzige, ihr sichtlich wohlgesinnte, hörte nun am Freitagvormittag einen berührenden autobiografischen Text: „Vom Aufstehen“über ein Mutter-Tochter-Verhältnis. „Großes Verzeihen in knappen Sätzen“, fand der Juryvorsitzende Hubert Winkels.
Nach Tochter und Mutter folgte Tochter und Vater: Hanna Herbst, eine deutsch-österreichische Journalistin, die gerade begonnen hat, für eine neue Sendung von Jan Böhmermann zu arbeiten, schildert in „Es wird einmal“die Erinnerungen einer Frau an ihren Vater. Plötzlich aber wurde ein Juror misstrauisch: Ist es überhaupt ein Vater, um den es hier geht? Überhaupt schaffte Herbst es, die in diesem Bewerb als kleine Götter fungierenden Juroren erfrischend zu verunsichern: Man hat doch Beißhemmungen, wenn man nicht weiß, ob einen die Autorin nicht einfach auf den Arm nehmen will . . .
Sozialstaat und Findlinge
Schicksale im Sozialstaat beschreibt der 60-jährige Grazer Egon Christian Leitner schon seit Jahren (er hat eine „Sozialstaatsroman“-Trilogie veröffentlicht). Am Freitag tat er es erneut: „Immer im Krieg“erzählt von Sozialhelfern, Hilfeempfängern und der Problematik des Helfens. Wenn Juroren über einen Text hitzig zu streiten anfangen, wie man an Literatur herangehen soll, kann dieser Text so schlecht nicht sein. Das taten sie auch nach der die Jury spaltenden Lesung des Deutschen Matthias Senkel, in der es um einen Findlingskreis auf einer Insel ging.
Und wieder teilte sich die Jury in starkes Lob und starkes Missfallen beim litaneiartigen Text des Schweizers Levin Westermann.
Es ist auch kein schlechtes Zeichen, wenn ein Text Juroren dazu treibt, mehr von Emotionen als von Urteilen zu reden, nicht davon, wie ein Text „ist“, sondern wie es ihnen damit ergangen ist. Das gelang am Donnerstag der Tirolerin Carolina Schutti mit „Nadjeschda“. „Machtvoll“fand Insa Wilke die Rede einer Figur nach einem Unfall in einer (psychiatrischen?) Klinik. Klaus Kastberger machte es nervös: „Muss jeder Blutstropfen gezählt werden?“Am ehesten beeindruckt war die Jury am Donnerstag von Lisa Krusches „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“– über eine Judith genannte Frau in einer postapokalyptischen (Computer-)Welt voller Bots und Avatare.
Wenig Gnade fand am Donnerstag die Deutsche Jasmin Ramadan mit „Ü“über einen Mann, der Frauen schlecht behandelt, damit sie ihn verlassen. Kaum besser ging es ihrem Landsmann Leonhard Hieronymi, der in „Über uns, Luzifer“von Ovid und verwöhnten Gegenwartskindern erzählt. Zurückhaltend kritisch bis anerkennend urteilte die Jury über „Kuzushi“des Österreichers Jörg Piringer. Man fühlte sich nicht kompetent: Der Autor arbeitet mit poetischer Software und hat auch eine vom Computer geschriebene Passage in den Text integriert.
Zu sehen sind die 44. Tage der deutschsprachigen Literatur auf 3sat und per Streaming (bachmannpreis.orf.at). Am Samstag wird noch gelesen, am Sonntagnachmittag findet die Preisverleihung statt.