Laizist und Kolonialist
Porträt. Der Liberale Jules Ferry war der bedeutendste Schulreformer Frankreichs. Und gleichzeitig die treibende Kraft hinter der expansiven Kolonialpolitik der Republik.
Es dauerte nicht lang, da hatte die aktuelle Denkmaldebatte auch Frankreich erreicht. Allen voran sollte es JeanBaptiste Colbert an den Kragen gehen. Dieser war nicht nur als Begründer des Merkantilismus, der prägenden Wirtschaftsform bis zum Kapitalismus, in Erinnerung geblieben, sondern er war als Minister von Ludwig XIV. auch für die Versklavungen in den französischen Überseegebieten verantwortlich. Der Schatten des „Sonnenkönigs“.
In Frankreich verlaufen Debatten grundsätzlich zumeist kontroversieller als anderswo. Für jede Meinung findet sich ein Intellektueller, für jede Gegenmeinung auch. In diesem Fall prallten dann die Colbert-Gegner und Colbert-Verteidiger aufeinander. Und der Chefredakteur des Magazins „L’Express“meinte gar, dann müsste man eigentlich auch die Erinnerung an Jules Ferry tilgen, eine Ikone des (linksliberalen) französischen Republikanismus.
Und da wird es nun interessant. Denn Jules Ferry ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass die Welt selten schwarz oder weiß – im metaphorischen wie im eigentlichen Sinn – ist. Und auch für die Widersprüchlichkeit eines Menschen. Wobei es nach damaliger Sicht gar keine war, sondern es waren zwei Seiten derselben Medaille.
Nach keiner anderen Persönlichkeit sind in Frankreich mehr Schulen benannt als nach Jules Ferry, es sind über 600. Der mehrmalige Ministerpräsident und Bildungsminister in den 1880er-Jahren war der Schulreformer Frankreichs. Und gleichzeitig war der Jurist und vormalige Pariser Bürgermeister die treibende Kraft hinter der französischen Kolonialpolitik.
Jules Ferry, geboren am 5. April 1832 in Saint-Die-´des-Vosges, war ein Liberaler, eine prägende Figur der Dritten Republik, politisch im damaligen Koordinatensystem auf der Seite der gemäßigten Linken zu verorten. Katholisch erzogen, brach er in seiner Jugend mit der Kirche und wurde zum überzeugten Antiklerikalen. Und zum Anführer des Kulturkampfs zwischen Staat und Kirche. Deren Vorherrschaft im Bildungsbereich Jules Ferry, mittlerweile auch Freimaurer, brechen wollte. Denn wer in der Bildungspolitik die Hegemonie hat, hat sie dann auch in der Gesellschaft.
Der Hebel zur Umgestaltung: die Grundschule. Im ganzen Land ließ Jules Ferry diese wie die Pilze aus dem Boden schießen. Vor allem aber: Diese Grundschulen waren fortan – ein Novum – kostenlos. Und Ferry führte zudem die Unterrichtspflicht ein. Und die Lehrer wurden auf den Laizismus verpflichtet. Dieses Prinzip der Trennung von Staat und Religion sollte Frankreich bis heute prägen. Die Lehrer wurden in eigenen Ausbildungsstätten, die in jedem Departement errichtet wurden, darin unterwiesen. Die Schüler sollten in republikanischem Geist erzogen werden, aus Bauern sollten Citoyens werden, die Vernunft den Glauben verdrängen. Statt des Religionsunterrichts gab es in öffentlichen Schulen nun eine Art Ethikunterricht.
„Die Bedeutung der Schulreformen Ferrys für die Festigung der Dritten Republik kann gar nicht überschätzt werden. Sie halfen, ein republikanisches Bewusstsein zu schaffen, dass es in dieser Breite zuvor nicht gegeben hat. Es erfasste zwar nicht alle gesellschaftlichen Schichten und politischen Lager, aber doch alle Teile des Landes“, so der Historiker Heinrich August Winkler.
Frankreich spricht nun Französisch
Der größte nachhaltige Erfolg der Ferry’schen Schulreformen war die Durchdringung des Landes mit der französischen Sprache. Zuvor hatte nämlich nur ein Teil der Franzosen Französisch gesprochen. Man sprach eigene Sprachen, Okzitanisch, Bretonisch, Baskisch oder regionale Dialekte. Die neue Schule verpflichtete aber nun alle, Französisch zu sprechen.
Jules Ferry und seine Mitstreiter machten aber vor den Grenzen des französischen Mutterlands nicht halt. „Die glühendsten Vorkämpfer der Republik und ihrer revolutionären Werte waren zugleich die überzeugtesten Imperialisten“, schreibt der Historiker Matthias Waechter. „Und beide Ziele – die Durchsetzung der Republik ebenso wie die koloniale Expansion – waren für sie zwei Dimensionen desselben Prozesses, nämlich der Erneuerung, Wiederaufrichtung und Modernisierung Frankreichs. Die Verfechter einer expansiven Kolonialpolitik waren dieselben Politiker, die den kostenlosen und laizistischen staatlichen Schulunterricht eingeführt hatten, die den gesellschaftlichen Einfluss des Klerikalismus bekämpft hatten und für die Verbreitung der republikanischen Werte eingetreten waren.“
Viel hatte dies auch mit der traumatischen Niederlage von 1870/1871 gegen das neu entstandene Deutsche Reich zu tun. Elsass und Lothringen waren verloren gegangen. In Sedan hätte „der deutsche Grundschullehrer“gewonnen, hieß es damals. Soll heißen: Die deutschen Soldaten waren wesentlich besser ausgebildet und patriotischer erzogen. Jules Ferry sollte das mit seiner Schulreform nachzuholen versuchen. Ohne diese Niederlage wäre Ferry allerdings auch nicht das geworden, was er dann war: Im verlorenen Krieg gegen die Deutschen war das Kaiserreich Napoleons III. untergegangen. Und die Dritte Republik entstand – angeführt von liberalen Politikern wie Leon Gambetta und Jules Ferry.
Die französische Kolonialpolitik der Republik war also gewissermaßen auch eine Kompensation für die an Deutschland verloren gegangenen Territorien. Und der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck unterstützte Ferry international dann auch genau deswegen bei seinen kolonialen Ambitionen. Denn wenn das französische Augenmerk auf Tunis läge und nicht mehr auf Straßburg, war Bismarck das sehr recht.
Aber es war nicht nur der kompensierte Phantomschmerz. Im Wettlauf der Großmächte um Kolonien wollte Frankreich nicht das Nachsehen haben. Es ging um Absatzmärkte. Angetrieben vor allem von Jules Ferry wuchsen die kolonialen Überseegebiete Frankreichs in Afrika und Asien auf über zehn Millionen Quadratkilometer an. Frankreich wurde nach dem britischen Empire zur zweitgrößten Kolonialmacht der Welt.
Nicht reaktionäre Könige oder Kaiser hatten das durchgesetzt, sondern progressive, liberale Politiker. „Die Unterwerfung im Geiste der Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – ein Paradox“, so Matthias Waechter. Vor dem Parlament verteidigte Jules Ferry seine Politik so: „Könnte irgendjemand leugnen, das es in Nordafrika mehr Gerechtigkeit, eine bessere materielle und moralische Ordnung gibt, seitdem Frankreich seine Eroberungen getätigt hat?“Und weiter: „Die überlegenen Rassen hätten das Recht und die Pflicht, die unterlegenen Rassen zu zivilisieren.“
Fraktionsübergreifende Lobby
Anfangs gab es noch Widerspruch: Etwa vom radikal-(links-)liberalen Abgeordneten Georges Clemenceau: „Versuchen wir nicht, die Gewalt mit dem scheinheiligen Begriff der Zivilisation zu bedecken.“Auch dass er die revolutionären Werte der Menschenrechte missachte, wurde Ferry vorgeworfen. Doch die Kritik verstummte recht rasch, im ganzen Land entstanden Klubs, der fraktionsübergreifende „Parti colonial“, die Lobbying für die Expansionspolitik betrieben. Und als Georges Clemenceau dann selbst Ministerpräsident war, trieb er die Kolonialisierung Marokkos voran.
In der französischen Kolonialpolitik propagierte man „Assimilation“. Die Regeln wurden von Paris vorgegeben, viel autonomen Spielraum gab es in den Kolonien nicht. Und auch die Möglichkeiten der Kolonialisierten, in der französischen Gesellschaft aufzusteigen, waren eng begrenzt. Was sich erfolgreich ausbreitete, war der Gebrauch der französischen Sprache in den Kolonien – wie schon zuvor im Mutterland, angestoßen von Jules Ferry.
Dieser stürzte letztlich über seine Kolonialpolitik. Der Versuch, die Gebiete Nordvietnams zu erobern, endete zunächst in einem Fiasko wegen des Eingreifens der Chinesen. Dieses „Debakel von Lang Son“führte zu seinem Rücktritt als Premier. „Sedan in Übersee“, nannte es die französische Presse.