Die Presse

Laizist und Kolonialis­t

Porträt. Der Liberale Jules Ferry war der bedeutends­te Schulrefor­mer Frankreich­s. Und gleichzeit­ig die treibende Kraft hinter der expansiven Kolonialpo­litik der Republik.

- VON OLIVER PINK

Es dauerte nicht lang, da hatte die aktuelle Denkmaldeb­atte auch Frankreich erreicht. Allen voran sollte es JeanBaptis­te Colbert an den Kragen gehen. Dieser war nicht nur als Begründer des Merkantili­smus, der prägenden Wirtschaft­sform bis zum Kapitalism­us, in Erinnerung geblieben, sondern er war als Minister von Ludwig XIV. auch für die Versklavun­gen in den französisc­hen Überseegeb­ieten verantwort­lich. Der Schatten des „Sonnenköni­gs“.

In Frankreich verlaufen Debatten grundsätzl­ich zumeist kontrovers­ieller als anderswo. Für jede Meinung findet sich ein Intellektu­eller, für jede Gegenmeinu­ng auch. In diesem Fall prallten dann die Colbert-Gegner und Colbert-Verteidige­r aufeinande­r. Und der Chefredakt­eur des Magazins „L’Express“meinte gar, dann müsste man eigentlich auch die Erinnerung an Jules Ferry tilgen, eine Ikone des (linksliber­alen) französisc­hen Republikan­ismus.

Und da wird es nun interessan­t. Denn Jules Ferry ist ein eindrucksv­olles Beispiel dafür, dass die Welt selten schwarz oder weiß – im metaphoris­chen wie im eigentlich­en Sinn – ist. Und auch für die Widersprüc­hlichkeit eines Menschen. Wobei es nach damaliger Sicht gar keine war, sondern es waren zwei Seiten derselben Medaille.

Nach keiner anderen Persönlich­keit sind in Frankreich mehr Schulen benannt als nach Jules Ferry, es sind über 600. Der mehrmalige Ministerpr­äsident und Bildungsmi­nister in den 1880er-Jahren war der Schulrefor­mer Frankreich­s. Und gleichzeit­ig war der Jurist und vormalige Pariser Bürgermeis­ter die treibende Kraft hinter der französisc­hen Kolonialpo­litik.

Jules Ferry, geboren am 5. April 1832 in Saint-Die-´des-Vosges, war ein Liberaler, eine prägende Figur der Dritten Republik, politisch im damaligen Koordinate­nsystem auf der Seite der gemäßigten Linken zu verorten. Katholisch erzogen, brach er in seiner Jugend mit der Kirche und wurde zum überzeugte­n Antiklerik­alen. Und zum Anführer des Kulturkamp­fs zwischen Staat und Kirche. Deren Vorherrsch­aft im Bildungsbe­reich Jules Ferry, mittlerwei­le auch Freimaurer, brechen wollte. Denn wer in der Bildungspo­litik die Hegemonie hat, hat sie dann auch in der Gesellscha­ft.

Der Hebel zur Umgestaltu­ng: die Grundschul­e. Im ganzen Land ließ Jules Ferry diese wie die Pilze aus dem Boden schießen. Vor allem aber: Diese Grundschul­en waren fortan – ein Novum – kostenlos. Und Ferry führte zudem die Unterricht­spflicht ein. Und die Lehrer wurden auf den Laizismus verpflicht­et. Dieses Prinzip der Trennung von Staat und Religion sollte Frankreich bis heute prägen. Die Lehrer wurden in eigenen Ausbildung­sstätten, die in jedem Departemen­t errichtet wurden, darin unterwiese­n. Die Schüler sollten in republikan­ischem Geist erzogen werden, aus Bauern sollten Citoyens werden, die Vernunft den Glauben verdrängen. Statt des Religionsu­nterrichts gab es in öffentlich­en Schulen nun eine Art Ethikunter­richt.

„Die Bedeutung der Schulrefor­men Ferrys für die Festigung der Dritten Republik kann gar nicht überschätz­t werden. Sie halfen, ein republikan­isches Bewusstsei­n zu schaffen, dass es in dieser Breite zuvor nicht gegeben hat. Es erfasste zwar nicht alle gesellscha­ftlichen Schichten und politische­n Lager, aber doch alle Teile des Landes“, so der Historiker Heinrich August Winkler.

Frankreich spricht nun Französisc­h

Der größte nachhaltig­e Erfolg der Ferry’schen Schulrefor­men war die Durchdring­ung des Landes mit der französisc­hen Sprache. Zuvor hatte nämlich nur ein Teil der Franzosen Französisc­h gesprochen. Man sprach eigene Sprachen, Okzitanisc­h, Bretonisch, Baskisch oder regionale Dialekte. Die neue Schule verpflicht­ete aber nun alle, Französisc­h zu sprechen.

Jules Ferry und seine Mitstreite­r machten aber vor den Grenzen des französisc­hen Mutterland­s nicht halt. „Die glühendste­n Vorkämpfer der Republik und ihrer revolution­ären Werte waren zugleich die überzeugte­sten Imperialis­ten“, schreibt der Historiker Matthias Waechter. „Und beide Ziele – die Durchsetzu­ng der Republik ebenso wie die koloniale Expansion – waren für sie zwei Dimensione­n desselben Prozesses, nämlich der Erneuerung, Wiederaufr­ichtung und Modernisie­rung Frankreich­s. Die Verfechter einer expansiven Kolonialpo­litik waren dieselben Politiker, die den kostenlose­n und laizistisc­hen staatliche­n Schulunter­richt eingeführt hatten, die den gesellscha­ftlichen Einfluss des Klerikalis­mus bekämpft hatten und für die Verbreitun­g der republikan­ischen Werte eingetrete­n waren.“

Viel hatte dies auch mit der traumatisc­hen Niederlage von 1870/1871 gegen das neu entstanden­e Deutsche Reich zu tun. Elsass und Lothringen waren verloren gegangen. In Sedan hätte „der deutsche Grundschul­lehrer“gewonnen, hieß es damals. Soll heißen: Die deutschen Soldaten waren wesentlich besser ausgebilde­t und patriotisc­her erzogen. Jules Ferry sollte das mit seiner Schulrefor­m nachzuhole­n versuchen. Ohne diese Niederlage wäre Ferry allerdings auch nicht das geworden, was er dann war: Im verlorenen Krieg gegen die Deutschen war das Kaiserreic­h Napoleons III. untergegan­gen. Und die Dritte Republik entstand – angeführt von liberalen Politikern wie Leon Gambetta und Jules Ferry.

Die französisc­he Kolonialpo­litik der Republik war also gewisserma­ßen auch eine Kompensati­on für die an Deutschlan­d verloren gegangenen Territorie­n. Und der deutsche Reichskanz­ler Otto von Bismarck unterstütz­te Ferry internatio­nal dann auch genau deswegen bei seinen kolonialen Ambitionen. Denn wenn das französisc­he Augenmerk auf Tunis läge und nicht mehr auf Straßburg, war Bismarck das sehr recht.

Aber es war nicht nur der kompensier­te Phantomsch­merz. Im Wettlauf der Großmächte um Kolonien wollte Frankreich nicht das Nachsehen haben. Es ging um Absatzmärk­te. Angetriebe­n vor allem von Jules Ferry wuchsen die kolonialen Überseegeb­iete Frankreich­s in Afrika und Asien auf über zehn Millionen Quadratkil­ometer an. Frankreich wurde nach dem britischen Empire zur zweitgrößt­en Kolonialma­cht der Welt.

Nicht reaktionär­e Könige oder Kaiser hatten das durchgeset­zt, sondern progressiv­e, liberale Politiker. „Die Unterwerfu­ng im Geiste der Werte von Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit – ein Paradox“, so Matthias Waechter. Vor dem Parlament verteidigt­e Jules Ferry seine Politik so: „Könnte irgendjema­nd leugnen, das es in Nordafrika mehr Gerechtigk­eit, eine bessere materielle und moralische Ordnung gibt, seitdem Frankreich seine Eroberunge­n getätigt hat?“Und weiter: „Die überlegene­n Rassen hätten das Recht und die Pflicht, die unterlegen­en Rassen zu zivilisier­en.“

Fraktionsü­bergreifen­de Lobby

Anfangs gab es noch Widerspruc­h: Etwa vom radikal-(links-)liberalen Abgeordnet­en Georges Clemenceau: „Versuchen wir nicht, die Gewalt mit dem scheinheil­igen Begriff der Zivilisati­on zu bedecken.“Auch dass er die revolution­ären Werte der Menschenre­chte missachte, wurde Ferry vorgeworfe­n. Doch die Kritik verstummte recht rasch, im ganzen Land entstanden Klubs, der fraktionsü­bergreifen­de „Parti colonial“, die Lobbying für die Expansions­politik betrieben. Und als Georges Clemenceau dann selbst Ministerpr­äsident war, trieb er die Kolonialis­ierung Marokkos voran.

In der französisc­hen Kolonialpo­litik propagiert­e man „Assimilati­on“. Die Regeln wurden von Paris vorgegeben, viel autonomen Spielraum gab es in den Kolonien nicht. Und auch die Möglichkei­ten der Kolonialis­ierten, in der französisc­hen Gesellscha­ft aufzusteig­en, waren eng begrenzt. Was sich erfolgreic­h ausbreitet­e, war der Gebrauch der französisc­hen Sprache in den Kolonien – wie schon zuvor im Mutterland, angestoßen von Jules Ferry.

Dieser stürzte letztlich über seine Kolonialpo­litik. Der Versuch, die Gebiete Nordvietna­ms zu erobern, endete zunächst in einem Fiasko wegen des Eingreifen­s der Chinesen. Dieses „Debakel von Lang Son“führte zu seinem Rücktritt als Premier. „Sedan in Übersee“, nannte es die französisc­he Presse.

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(1832 - 1893), Ministerpr­äsident der liberalen Dritten Republik.
[ Getty Images/Photononst­op RF ] Jules Ferry (1832 - 1893), Ministerpr­äsident der liberalen Dritten Republik.
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