Es wird Nacht im Weißen Haus Und Trump geht nicht freiwillig
Die Diskussion für den Fall einer Niederlage des amtierenden US-Präsidenten wird immer intensiver. Einmalig. Ungewöhnlich. Bezeichnend.
Führen Sie sich folgendes Bild vor Augen: Auf den Tag genau heute in acht Monaten, 12 Uhr mittags, ist die Stunde, in der es in den USA zu einem Machtwechsel kommt. Donald Trump soll das Weiße Haus in Washington verlassen. Er weigert sich. Er hat die Wahl knapp verloren, anerkennt das Ergebnis nicht. Was passiert dann?
Diese Frage löst seit einigen Wochen in den USA auffällig häufig Beunruhigung oder Angstzustände aus. In Washington wurde bereits das sogenannte Transition Integrity Project (Reibungslose Machtübergabe) ins Leben gerufen. Über Parteigrenzen hinweg werden alle Varianten durchgespielt: knappe Niederlage Trumps, klarer Sieg des Gegenkandidaten Joe Biden, Einschüchterung von Wahlhelfern durch die Republikaner, Einsatz des Militärs, um Trump aus dem Weißen Haus zu begleiten etc.
In acht Monaten also! Die meisten Kommentatoren sind sich einig, dass der friedliche Machtwechsel in den USA vor allem von Einsichtigkeit, gutem Willen und der Kooperation des Wahlverlierers abhängt – wie 2000 im Fall des Demokraten Al Gore.
Allerdings können Einsichtigkeit, guter Wille und Respekt vor den Institutionen Donald Trump nach den letzten dreieinhalb Jahren nicht attestiert werden. Im Gegenteil: Unberechenbarkeit, Ich-Bezogenheit, Verachtung für Traditionen sind die Merkmale seiner ersten Amtsjahre.
Skeptiker und Kritiker werden sich heute, Samstag, nach der ersten Massenveranstaltung im Wahlkampf um die Präsidentschaft bestätigt sehen. Allein der Austragungsort, Tulsa in Oklahoma, ist eine Provokation; Stadt des größten Massakers an Afroamerikanern 1921. Auch die Veranstaltung selbst in Coronazeiten ist eine solche. Von den Massen wird ein schriftlicher Klagsverzicht für den Fall einer Ansteckung mit Covid-19 verlangt. Das Massenevent soll den brüllenden Beweis liefern, dass die Liebe seiner Anhänger ungebrochen und bedingungslos ist, sie auch bereit sind, ihre Gesundheit für ihn zu opfern. Was immer Trump heute oder in den knappen fünf Monaten bis zur Wahl sagen wird, zählt nicht. Das gilt für Akzeptanz wie kürzlich („Wenn ich verliere, verliere ich“) oder Weigerung. Erstens sagt er am Tag darauf oft das Gegenteil; zweitens behauptet er immer wieder, er habe ja nur gescherzt.
Das physische Ausharren im Oval Office im Fall einer Wahlniederlage ist aber nicht das einzige Szenario, mit dem sich die amerikanische Öffentlichkeit wird beschäftigen müssen. Was, wenn seine Anhänger bürgerkriegsähnliche Zustände auslösen und von Trump angefeuert werden? Setzt er dann die Armee gegen seine Gegner ein? Was, wenn er die Pandemie ausnützen wollte und eine Verschiebung der Wahl im November anstrebt? Schwiegersohn Jered Kushner hat diese Diskussion mit einer Bemerkung beflügelt, die Wahl sei nur aus „heutiger Sicht“garantiert. Und selbst im Fall eines Sieges bleibt die Ungewissheit. Vielleicht wollten die Amerikaner ja eine dritte Amtszeit für ihn, meinte Trump kürzlich. Niemand glaubt, er habe nur gescherzt.
Zuletzt deutete viel darauf hin, dass Trump und sein Team bei einer Niederlage „Betrug“schreien werden. Diese Linie wird systematisch aufgebaut. So ist die „Briefwahl“für sie des Teufels, obwohl Trump sie selbst in Florida in Anspruch genommen hat. Sie sollte verboten werden, denn sie nütze nur den Demokraten. Mit der ständigen Diskreditierung der Briefwahl sollen – besonders in Pandemiezeiten – ganze Wählergruppen von ihrem Wahlrecht abgehalten werden. Die ihm ergebene Gefolgschaft werde sich davon nicht beeindrucken lassen. So das Kalkül.
Trump ist durch Pandemie, Rassenunruhen, Gerichtsurteile und Enthüllungen in die Defensive geraten. Das macht ihn gefährlich. Bis jetzt war es undenkbar, dass ein Präsident das Amt nach einer Niederlage nicht verlässt. Jetzt nicht mehr. Das wird man heute in Tulsa erahnen können.
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Zur Autorin: Anneliese Rohrer ist Journalistin in Wien. diepresse.com/rohrer
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