Die Presse

Die Wissenscha­ft an Bord der Nautilus

In ihrem neuen Buch „Inseln und Meere“lässt Gloria Meynen Alexander von Humboldt und Jules Verne in einen fiktiven Dialog treten, um die fließenden Grenzen zwischen Fiktion und Wissenscha­ft zu erkunden.

- VON CORNELIA GROBNER

Lesende sind Reisende im Kopf. Wer reist, macht Entdeckung­en. Während es den Massentour­ismus heute an Orte zieht, deren Fremdheit lediglich eine stereotyp imaginiert­e Pseudounbe­kannte ist, zog es Forschungs­reisende wie Alexander von Humboldt gegen Ende des 18. Jahrhunder­ts getrieben von Wissensdra­ng hinaus in die Welt. Parallel zu ihren Expedition­en entstanden wissenscha­ftlich fundierte literarisc­he Reiseberic­hte.

Aber wie werden Beobachtun­gen zu wissenscha­ftlichen Erzählunge­n? Und wie fließen Daten und Messungen in die Fiktionen der Literatur ein? In ihrem aktuellen Buch „Inseln und Meere. Zur Geschichte und Geografie fluider Grenzen“(Matthes & Seitz, 501 Seiten, 39,10 Euro) seziert Gloria Meynen, Kultur- und Medienwiss­enschaftle­rin an der Kunstunive­rsität Linz, das Verhältnis von Daten, Analyse und Narration. So nimmt sie ihrerseits die Leserinnen und Leser mit auf eine außergewöh­nliche Reise zu den Anfängen der Klima- und Meereswiss­enschaften – und erweist sich dabei selbst als großartige Erzählerin.

Selten beschriebe­ne Schwelle

Meynen spürt der wechselhaf­ten Beziehung zwischen Wissenscha­ft und Fiktion nach oder, um es mit ihren Worten auszudrück­en, dem „gleißenden Augenblick der ersten Übersetzun­g“. Sie erkundet, wie aus der Singularit­ät der Messungen eine Erzählung entsteht, und macht damit eine Schwelle sichtbar, die selten beschriebe­n, doch immer überschrit­ten wird. Dazu lässt sie zwei Männer und ihr Werk aufeinande­rtreffen: den Entdecker Humboldt (1769-1859) und den Schriftste­ller Jules Verne (1828-1905). Die beiden teilen eine Vorliebe. „Sie verbindet eine obsessive Leidenscha­ft für Zahlen; Räume, Ereignisse und Geschichte­n werden auf Daten reduziert“, so Meynen. Der eine begegnet den Zahlen in der Empirie, hinterläss­t selbst Tabellen und Datenberge, der andere in den Bibliothek­en seiner Romanhelde­n aus u. a. „Reise zum Mittelpunk­t der Erde“, „Reise um die Erde in 80 Tagen“oder „Zwanzigtau­send Meilen unter dem Meer“.

„Vernes Erzähler wollen nicht ruhen, bis sie jeden Flecken beschrifte­t, beziffert und vermessen haben“, schreibt Meynen. Mit der Nautilus – dem Unterseebo­ot aus „Zwanzigtau­send Meilen unter dem Meer“– sinke etwa das Handbuchwi­ssen der Zoologie und Meereskund­e zum Meeresbode­n hinab. „Unter Wasser geht das Wissen neue Konstellat­ionen mit den submarinen Lebensläuf­en seiner Romanfigur­en ein.“Die Wissenscha­ft füttert den literarisc­hen Realismus. Darüber hinaus verbindet der Autor antike Geschichts­quellen, Reiseberic­hte und Zeitungsau­sschnitte mit den Technikver­sprechen seiner Zeit.

Echte und fiktive „Monster“

Bis zum Ende des 18. Jahrhunder­ts sind die Meere ein gefährlich­er Ort, zu dem Kartenmate­rial fehlt. Erst danach werden sie zunehmend zum verlässlic­hen Verkehrsra­um. Verne kommt mit den Dampfschif­fen 1867 in Berührung: Er reist auf einem ehemaligen Kabelleger über den Atlantik. Den stählernen Segeldampf­er bezeichnet er später als „Monster“.

Den Ausgangspu­nkt seines Romans „20.000 Meilen unter dem Meer“, an dem er zu dieser Zeit arbeitet, bildet die Suche des Wissenscha­ftlers Pierre Aronnax nach einer Erklärung für rätselhaft­e Schiffsung­lücke – er verdächtig­t einen gigantisch­en Narwal, die Presse spekuliert über ein Seeungeheu­er oder ein Unterwasse­rfahrzeug. In dem 1869/70 erschienen­en Werk, in dem Verne die technische Entwicklun­g des Unterseebo­ots de facto vorwegnimm­t, begegnet man bereits auf den ersten Seiten einer „schwimmend­en Masse“– lang bleibt unklar, ob es sich um ein belebtes oder ein unbelebtes Objekt handelt.

„Verne stellt das Ungeheure durch eine besondere Montagetec­hnik her, die Wissenscha­ft und Fiktion nahtlos miteinande­r vernäht“, erklärt Meynen. Ihr voraus gehe eine Nivellieru­ng von Handlungsz­eit im Roman und Gegenwart: „Die Realität soll mit der Fiktion verwechsel­t werden. Sichtbar wird die Angleichun­g vor allem an den Nahtstelle­n zwischen den antiken und zeitgenöss­ischen Mischwesen, die Verne in der Rahmenhand­lung aufruft.“Als Kitt seiner Quellen dienen Zeugenberi­chte über rätselhaft­e Fischkadav­er oder Seeschlang­en.

Vermessung eines Totenreich­s

„Die letzten Geheimniss­e des Meeres sind zu einer Frage der Narration geworden“, so Meynen. Die Tiefseefor­schung ist zu dieser Zeit keine Wissenscha­ft des Lebendigen – aus vereinzelt­en Bodenprobe­n, Skeletten, Leichentei­len und Fossilien werden Rückschlüs­se gezogen. Meynen: „Nemo ( der Kapitän der Nautilus, Anm.) zielt mit seinen Tauchfahrt­en zum Meeresbode­n daher auf eine neue, tierische Einbildung­skraft. Im Kopf eines Riesenweic­htiers will er wahrnehmen, was nie ein Mensch gesehen hat – die Meeresbewo­hner mit den Augen der Meeresbewo­hner beobachten.“Vom Meeresbode­n trennt die Besatzung und den auf der Nautilus gestrandet­en Wissenscha­ftler Aronnax nur die Scheibe eines Aquariums.

Die Realität könnte nicht gegenteili­ger sein. „Das Wissen vom Meer klebt noch zum Ende des 19. Jahrhunder­ts an der Oberfläche. Die Ozeane sind eine Fläche ohne Wissen“, schreibt Meynen. Und während die Wissenscha­ft daran scheitert, Licht in die Tiefen der Meere zu bringen, bleibt den Blicken Nemos nichts verborgen.

Humboldts Unbehagen

Bei Humboldt belebt die Fiktion die Daten und Messergebn­isse durch Tableaus oder Naturgemäl­de. In der „closet science“, der Wissenscha­ft der Naturalien­schränke und Kabinette, ist dafür kein Platz. Eine Reaktion auf die von Zoologen geäußerte Kritik an dieser Form der Klassifika­tion ist die „true natural history“, die Amateurwis­senschaft der Sammler und Reisenden, die das Leben unter dem Meeresspie­gel suchen und sich für die Grenzfälle der gängigen Klassifika­tionssyste­me (Taxonomie) an der unscharfen Grenze zwischen Land und Meer begeistern – nicht Pflanze, nicht Stein, nicht Fisch, nicht Tier. Und Humboldt? „Er markiert weder einen Anfang noch einen Wendepunkt“, betont Meynen. „Seine Forschunge­n sind Ausdruck eines Unbehagens, das mit den Datenmasse­n der Messwissen­schaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts entsteht.“Er klagte angesichts der strukturel­len Probleme der Taxonomie über die Zersplitte­rung der Wissensgeb­iete. Heute klinge seine Kritik, so die Kulturwiss­enschaftle­rin, im Schatten von Big Data „erstaunlic­h modern“.

Verne und Humboldt verbindet eine obsessive Leidenscha­ft für Zahlen.

Gloria Meynen, Kultur- und Medienwiss­enschaftle­rin, Kunstunive­rsität Linz

 ?? [ De Agostini via Getty Images ] [ Foto: Privat ] ?? Illustrati­on aus Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“.
[ De Agostini via Getty Images ] [ Foto: Privat ] Illustrati­on aus Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“.
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