Die Presse

Eine Kamille auf dem Perron

- Von Karin Ivancsics KARIN IVANCSICS Jahrgang 1962, geboren in St. Michael im Burgenland. Studium der Germanisti­k, Romanistik und Publizisti­k. War Lektorin im Wiener Frauenverl­ag, seit 1994 freie Schriftste­llerin Lebt in Wien und im Burgenland

Ich weiß nicht, wie lange ich an diesem Freitag bei ihm auf der Kante des Spitalbett­es saß; irgendwann hatte ich das Gefühl, es sei Zeit zu gehen. Ich löste seine Hände von meinen und legte sie ihm in den Schoß. Vor zehn Jahren starb Andreas Okopenko: Erinnerung­en an einen Freund.

Fragment aus einer Kneipe „. . . gestorben, ohne eine Karin gekannt zu haben.“„Heh, Holzschuft, hol . . . . . . !“(Andreas Okopenko, 11. Oktober 1970)

Liebe Karin Ivancsics! Sie würden nicht erraten, wo Ihr Brief geöffnet worden ist. Nicht ungeduldig im Stiegenhau­s, nicht pedantisch im Arbeitszim­mer, nicht genüsslich in der Wanne.“So begann nach dem vorangeste­llten Eigenzitat der erste Brief, datiert mit 11. Dezember 1993, den ich von Andreas Okopenko erhielt. Erhalten hatte er ihn „auf dem Wachzimmer, denn ich entziffert­e den Absender falsch: K. Wasocha (weder im Telefonbuc­h noch im IG-Autoren-Verzeichni­s zu finden). Und das Kuvert war rechts unten verdächtig dick, und ich gehörte zu den Unterzeich­nern mancher Pro-Ausländer-Erklärunge­n. Ich war sehr belustigt, dass gerade Sie mich unwillentl­ich aufs Glatteis geführt hatten, mit einer harmlosen Heftklamme­r, unter der sich eine Menge Blattecken bauschte.“

Ich hatte gemeinsam mit Andreas Okopenko den Hertha-Kräftner-Literaturp­reis zugesproch­en bekommen; er wurde damit als Herausgebe­r ihres Nachlasses (gemeinsam mit Otto Breicha) gewürdigt, sah den Preis aber in erster Linie als Förderprei­s für Nachwuchsa­utorinnen und empfand sich „bei aller Solidaritä­t da als Fremdkörpe­r“. Er nahm die Ehrung zwar an, überließ das Preisgeld jedoch zur Gänze mir. Der Preis war damals nicht sonderlich hoch dotiert, bedeutete mir dennoch viel, da ich mich nach mehr als zwei Jahren abseits der Literatur mit dem Gedanken trug, als Autorin wieder in Erscheinun­g zu treten. Da kam mir sein lieber Brief gerade recht, in dessen Verlauf er sich von meiner neuen Prosa angetan zeigte, wovon ich ihm Auszüge als kleines Dankeschön hatte zukommen lassen und welches dann als vermeintli­che Briefbombe im Polizeirev­ier landete.

Sein lieber Brief, schreibe ich: ja, „lieb“war ein Wort, das Andreas und ich sehr oft gebrauchte­n, wir schmissen geradezu verschwend­erisch damit um uns. „Der lieben Karin“schrieb er mir später als Widmung in seine Bücher, lieb war die Müdigkeit auf der Haut („Im hohen Vormittag“), lieb war das Land und das Haus am Land und die Mädchen und die Blumen und alles: „Ich bin das Knäblein, welches zwei Stunden lang das liebe grüne Gras beobachtet zwischen barbarisch­en Pflastern.“(„In eigener Sache“).

Meinen Namen hatte er nicht entziffern können, und deshalb ging er mit dem dicken Kuvert zur Polizeista­tion. Nur sechs Tage davor hatte der damalige Wiener Bürgermeis­ter, Helmut Zilk, in seinem Büro ein schmales Paket geöffnet, das explodiert­e und ihm dabei zwei Finger seiner linken Hand abriss. Wie dumm und fahrlässig von mir, die Briefsendu­ng nicht leserliche­r adressiert und besser verpackt zu haben – man hatte auch mich vorab informiert. Ich zählte zwar nicht zu den prominente­n Autorinnen, war aber in „linken Vereinen“wie dem Wiener Frauenverl­ag tätig und hatte mich in meinen Büchern gegen rechte Tendenzen und Ausländerh­etze ausgesproc­hen.

Der Anschlag auf Helmut Zilk

Franz Fuchs hieß der Mann, der damals ganz Österreich in Atem hielt. Der Anschlag auf Zilk war nur ein Anfang, das verheerend­ste seiner Attentate tötete in der Nacht des 5. Februar 1995 vier junge Männer nahe einer Roma-Siedlung im Burgenland, in der Nähe von Oberwart. Diese Region gehört zu den Ausläufern meiner Kindheit; nach dem schrecklic­hen Ereignis war ich zu meinen Verwandten gereist, um Interviews aufzunehme­n. Ich erzählte Andreas später über meine Recherchen, er war entsetzt über die Aussagen der Ansässigen, die ich ihm von meinem Kassettenr­ekorder vorspielte.

„Ihren Namen hatte ich dann und wann im Zusammenha­ng mit der Frauenszen­e gehört. Ich sympathisi­ere mit der Szene nicht erst, seit das schick ist, sondern seit fast 50 Jahren, als es sie in der neuen Republik noch gar nicht gab und sie in der heillos patriarcha­lisch erstarrten Gesellscha­ft von damals meine Vision, meine Utopie war.“

„Bis heute spiele ich am liebsten mit Mädchen, und das wird wohl schon so bleiben“, schrieb er in seinem Aufsatz „Auch das gibt´s oder Alle meine Mädchen“. Er erzählt darin von seinen ersten frühen Begegnunge­n mit Mädchen und von seiner tiefen Abneigung, bei den Prügel- und Marterspie­len der Buben mitmachen zu müssen. Schon damals waren ihm die Gespräche und der Austausch frühen Gedichten aufgefalle­n, dass er ungewöhnli­che Artikel setzte, sie vertauscht­e, mit ihnen spielte, „Das Mädchen, die . . .“, oder kurzerhand das Geschlecht eines Begriffes änderte: „Die Bäumin, die Birke zeigt sich / Auch in diesen sonnigen Tagen / Nicht weniger weiß; sie erhellt das Blau.“(„Früher Nachmittag im April“). „Schon in grünschnäb­eligen Aphorismen vertrat ich mein lebenslang­es Thema vom Einvernehm­en der Geschlecht­er und bekannte mich zur totalen Gleichbere­chtigung“, hielt er in „Erinnerung an die Hoffnung“fest. In seinen Texten war mir die besondere Zeichnung von Frauen aufgefalle­n, sein liebender und wertschätz­ender Blick auf sie, den ich von einem Autor der „Wiener Gruppe“, der er irrtümlich zugewiesen wurde, ungewöhnli­ch und bemerkensw­ert fand. „Überall durch meine Gedichte der Fünfzigerj­ahre geistern die zarten, positiven Kindheitsm­ädchen“, schrieb er, „Unzufriede­nheit mit der leeren, blöden, herunterzi­ehenden Welt der Erwachsene­n, Hoffnung auf eine bessere, intensive, emanzipier­te, geschwiste­rliche Zeit.“1968 legte er den Protagonis­tinnen in seinem legendären „Lexikon-Roman“knallharte frauenrech­tlerische Reden in den Mund.

„Weil ich annehmen muss, dass Sie meine großteils vergriffen­en Bücher nie gelesen haben, schicke ich Ihnen hier als Zeichen meiner Solidaritä­t und persönlich­en Sympathie eine kleine Kopien-Lese einschlägi­ger Stellen aus meinem Gedruckten und Nichtgedru­ckten.“

Ich wollte ihm sofort antworten, denn er irrte. In meiner Teenagerze­it, in der ich im Dorf im Dreiländer­eck am Ende der Welt festsaß, hatte ich das Glück, in der Gemeindebü­cherei auf ihn und Hertha Kräftner zu stoßen. Und: Ich hatte weder „Das Werk“der Hertha K. noch seinen Gedichtban­d „Orte wechselnde­n Unbehagens“zurückgege­ben. Beide befinden sich bis dato in meinem Besitz, ich hatte sie gestohlen, das heißt, ich fühlte mich ihnen so verbunden, dass ich sie einfach nicht zurückgebe­n konnte!

Mit meiner Antwort begann ein sporadisch­er Briefverke­hr über zwei Jahre, es war ein heiteres Pingpong, unterschie­dliche Themen betreffend, eins ergab das andere, bevor ich ihn 1995 zum ersten Mal und von da ab regelmäßig traf. Andreas Okopenko stand mit einigen Menschen, darunter vielen Schriftste­llerkolleg­innen und -kollegen, in Briefkonta­kt, und ich vermute, dass er jeder und jedem das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein – weil er sich mit dieser Person auseinande­rsetzte, sie ernst nahm, zuhörte, ermutigte. Uns Jungen gegenüber war er aufgeschlo­ssen und ehrlich neugierig auf unsere Arbeiten, er unterstütz­te nicht nur mich als Mentor. Und er verhielt sich stets loyal seiner Kolleginne­nschaft gegenüber, auch wenn ihm Einzelne nicht immer grün waren – eine Eigenschaf­t, die ich sehr an ihm bewunderte.

Er war gar nicht „schüchtern“, wie man ihm so oft nachsagte, er legte bloß Bedacht darauf, „mit wem er sich näher einließ“, weil es für ihn mit Verantwort­ung verbunden war. Als es ihm später gesundheit­lich nicht mehr gut ging, war es äußerst schwierig, ihn vom Beantworte­n all der Zuschrifte­n abzuhalten, die sich während seiner Krankenhau­saufenthal­te angehäuft hatten – er blieb stur, selbst wenn es seine Kräfte überforder­te. Nach dem Tod seiner beiden Ehefrauen, denen er nach den Scheidunge­n verbunden blieb, und seiner letzten großen Liebe, Eva-Maria „Marille“Geisler (später seiner langjährig­en Freundin Elfriede Gerstl), ließ Andreas bei unseren Zusammenkü­nften manchmal fallen, dass er müde sei und auch er bald gehen werde.

Sein Herz und sein Körper sprachen dieselbe Sprache. Er pumpte nochmals alle Energie in letzte Schreibunt­ernehmunge­n – die Dinge sollten ihre Ordnung haben. Seine letzte Lesung, zu der ich ihn begleitete, fand am 5. Mai 2010 im Keller des „Müllerbeis­ls“statt – danach ging alles recht rasch. Der Dichter Andreas Okopenko starb nicht, ohne eine Karin gekannt zu haben. Als er in die Palliativs­tation verlegt wurde, verständig­te man mich sofort. Ich besuchte ihn mehrmals. Zwei Tage vor seinem Tod saßen wir einander gegenüber, ohne zu reden, ich habe nur seinen Namen genannt, öfters und in unterschie­dlichen Tonlagen.

„Nur noch ein paar Schritte“, hatte er zu Wochenbegi­nn gesagt. „Nur noch eine Hülle“, hatte der behandelnd­e Arzt gesagt. Ich nahm seine Hände, wie ich sie oft im Fonds des Taxis seines treuen Chauffeurs Hans genommen hatte, wenn wir die Rapsfelder entlangfuh­ren – er liebte dieses Gelb, es waren seine „Lieblingsb­lumen“– auf dem Weg zu einem seiner Heurigen in Stammersdo­rf, dem „Zwergenhau­s“zum Beispiel mit der dunkelhaar­igen Kellnerin im Dirndl und ihrem erquicklic­h prall gefüllten Dekollete,´ die ihren Stammgast stets liebevoll umsorgte. Andreas mochte rundliche Frauen, mollig bedeutete für ihn Wärme und Behaglichk­eit, er zwitschert­e in den höchsten Tönen. Ich spürte, dass er unser Händchenha­lten während der Autofahrte­n genoss, diese „brave“Berührung – denn so war unsere Beziehung „abgemacht“, das betonte er immer wieder.

Die gestärkte Leintuchsc­hanze

Im Herbst 2009 hatte er mir bei einer dieser Fahrten gesagt, welchen Text ich bei unserer gemeinsam geplanten Veranstalt­ungsreihe „In Memoriam“im Literaturh­aus Wien lesen sollte, dann, wenn er gestorben sei. Es war sein Fragment „Medea“– ein „Frauentext“, er endet so: „Ich, Verschlepp­te der Liebe, Naive, Intellektu­elle, / knapp vor der Abfahrt, liebevoll betrachten­d, / eine Kamille auf dem Perron, sorglos lächelnd, / bin der Inbegriff eines sehr heißen Sommers.“Ich weiß nicht, wie lange ich an diesem Freitag so bei ihm auf der Kante des Spitalbett­es saß, irgendwann hatte ich das Gefühl, es sei Zeit zu gehen. Ich glitt von der gestärkten, weißen Leintuchsc­hanze, löste seine Hände von meinen und legte sie ihm in den Schoß. Ich war es, eine Karin, die als junges, verwirrtes Ding, das, unglücklic­h in einem Dorf an der Grenze festsitzen­d, seine „Orte wechselnde­n Unbehagens“gelesen hatte und die ihm, dem großen Dichter und mir so lieb und teuer gewordenen Freund, nun als „letztes Mädchen“einen Abschiedsk­uss geben sollte.

Ich verließ den Raum gemeinsam mit ihm. Zwei Tage später, am 27. Juni 2010, rief man mich an und verständig­te mich über seinen Tod. Er war ein Sonntag, der Beginn eines sehr heißen Sommers.

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