Eine Kamille auf dem Perron
Ich weiß nicht, wie lange ich an diesem Freitag bei ihm auf der Kante des Spitalbettes saß; irgendwann hatte ich das Gefühl, es sei Zeit zu gehen. Ich löste seine Hände von meinen und legte sie ihm in den Schoß. Vor zehn Jahren starb Andreas Okopenko: Erinnerungen an einen Freund.
Fragment aus einer Kneipe „. . . gestorben, ohne eine Karin gekannt zu haben.“„Heh, Holzschuft, hol . . . . . . !“(Andreas Okopenko, 11. Oktober 1970)
Liebe Karin Ivancsics! Sie würden nicht erraten, wo Ihr Brief geöffnet worden ist. Nicht ungeduldig im Stiegenhaus, nicht pedantisch im Arbeitszimmer, nicht genüsslich in der Wanne.“So begann nach dem vorangestellten Eigenzitat der erste Brief, datiert mit 11. Dezember 1993, den ich von Andreas Okopenko erhielt. Erhalten hatte er ihn „auf dem Wachzimmer, denn ich entzifferte den Absender falsch: K. Wasocha (weder im Telefonbuch noch im IG-Autoren-Verzeichnis zu finden). Und das Kuvert war rechts unten verdächtig dick, und ich gehörte zu den Unterzeichnern mancher Pro-Ausländer-Erklärungen. Ich war sehr belustigt, dass gerade Sie mich unwillentlich aufs Glatteis geführt hatten, mit einer harmlosen Heftklammer, unter der sich eine Menge Blattecken bauschte.“
Ich hatte gemeinsam mit Andreas Okopenko den Hertha-Kräftner-Literaturpreis zugesprochen bekommen; er wurde damit als Herausgeber ihres Nachlasses (gemeinsam mit Otto Breicha) gewürdigt, sah den Preis aber in erster Linie als Förderpreis für Nachwuchsautorinnen und empfand sich „bei aller Solidarität da als Fremdkörper“. Er nahm die Ehrung zwar an, überließ das Preisgeld jedoch zur Gänze mir. Der Preis war damals nicht sonderlich hoch dotiert, bedeutete mir dennoch viel, da ich mich nach mehr als zwei Jahren abseits der Literatur mit dem Gedanken trug, als Autorin wieder in Erscheinung zu treten. Da kam mir sein lieber Brief gerade recht, in dessen Verlauf er sich von meiner neuen Prosa angetan zeigte, wovon ich ihm Auszüge als kleines Dankeschön hatte zukommen lassen und welches dann als vermeintliche Briefbombe im Polizeirevier landete.
Sein lieber Brief, schreibe ich: ja, „lieb“war ein Wort, das Andreas und ich sehr oft gebrauchten, wir schmissen geradezu verschwenderisch damit um uns. „Der lieben Karin“schrieb er mir später als Widmung in seine Bücher, lieb war die Müdigkeit auf der Haut („Im hohen Vormittag“), lieb war das Land und das Haus am Land und die Mädchen und die Blumen und alles: „Ich bin das Knäblein, welches zwei Stunden lang das liebe grüne Gras beobachtet zwischen barbarischen Pflastern.“(„In eigener Sache“).
Meinen Namen hatte er nicht entziffern können, und deshalb ging er mit dem dicken Kuvert zur Polizeistation. Nur sechs Tage davor hatte der damalige Wiener Bürgermeister, Helmut Zilk, in seinem Büro ein schmales Paket geöffnet, das explodierte und ihm dabei zwei Finger seiner linken Hand abriss. Wie dumm und fahrlässig von mir, die Briefsendung nicht leserlicher adressiert und besser verpackt zu haben – man hatte auch mich vorab informiert. Ich zählte zwar nicht zu den prominenten Autorinnen, war aber in „linken Vereinen“wie dem Wiener Frauenverlag tätig und hatte mich in meinen Büchern gegen rechte Tendenzen und Ausländerhetze ausgesprochen.
Der Anschlag auf Helmut Zilk
Franz Fuchs hieß der Mann, der damals ganz Österreich in Atem hielt. Der Anschlag auf Zilk war nur ein Anfang, das verheerendste seiner Attentate tötete in der Nacht des 5. Februar 1995 vier junge Männer nahe einer Roma-Siedlung im Burgenland, in der Nähe von Oberwart. Diese Region gehört zu den Ausläufern meiner Kindheit; nach dem schrecklichen Ereignis war ich zu meinen Verwandten gereist, um Interviews aufzunehmen. Ich erzählte Andreas später über meine Recherchen, er war entsetzt über die Aussagen der Ansässigen, die ich ihm von meinem Kassettenrekorder vorspielte.
„Ihren Namen hatte ich dann und wann im Zusammenhang mit der Frauenszene gehört. Ich sympathisiere mit der Szene nicht erst, seit das schick ist, sondern seit fast 50 Jahren, als es sie in der neuen Republik noch gar nicht gab und sie in der heillos patriarchalisch erstarrten Gesellschaft von damals meine Vision, meine Utopie war.“
„Bis heute spiele ich am liebsten mit Mädchen, und das wird wohl schon so bleiben“, schrieb er in seinem Aufsatz „Auch das gibt´s oder Alle meine Mädchen“. Er erzählt darin von seinen ersten frühen Begegnungen mit Mädchen und von seiner tiefen Abneigung, bei den Prügel- und Marterspielen der Buben mitmachen zu müssen. Schon damals waren ihm die Gespräche und der Austausch frühen Gedichten aufgefallen, dass er ungewöhnliche Artikel setzte, sie vertauschte, mit ihnen spielte, „Das Mädchen, die . . .“, oder kurzerhand das Geschlecht eines Begriffes änderte: „Die Bäumin, die Birke zeigt sich / Auch in diesen sonnigen Tagen / Nicht weniger weiß; sie erhellt das Blau.“(„Früher Nachmittag im April“). „Schon in grünschnäbeligen Aphorismen vertrat ich mein lebenslanges Thema vom Einvernehmen der Geschlechter und bekannte mich zur totalen Gleichberechtigung“, hielt er in „Erinnerung an die Hoffnung“fest. In seinen Texten war mir die besondere Zeichnung von Frauen aufgefallen, sein liebender und wertschätzender Blick auf sie, den ich von einem Autor der „Wiener Gruppe“, der er irrtümlich zugewiesen wurde, ungewöhnlich und bemerkenswert fand. „Überall durch meine Gedichte der Fünfzigerjahre geistern die zarten, positiven Kindheitsmädchen“, schrieb er, „Unzufriedenheit mit der leeren, blöden, herunterziehenden Welt der Erwachsenen, Hoffnung auf eine bessere, intensive, emanzipierte, geschwisterliche Zeit.“1968 legte er den Protagonistinnen in seinem legendären „Lexikon-Roman“knallharte frauenrechtlerische Reden in den Mund.
„Weil ich annehmen muss, dass Sie meine großteils vergriffenen Bücher nie gelesen haben, schicke ich Ihnen hier als Zeichen meiner Solidarität und persönlichen Sympathie eine kleine Kopien-Lese einschlägiger Stellen aus meinem Gedruckten und Nichtgedruckten.“
Ich wollte ihm sofort antworten, denn er irrte. In meiner Teenagerzeit, in der ich im Dorf im Dreiländereck am Ende der Welt festsaß, hatte ich das Glück, in der Gemeindebücherei auf ihn und Hertha Kräftner zu stoßen. Und: Ich hatte weder „Das Werk“der Hertha K. noch seinen Gedichtband „Orte wechselnden Unbehagens“zurückgegeben. Beide befinden sich bis dato in meinem Besitz, ich hatte sie gestohlen, das heißt, ich fühlte mich ihnen so verbunden, dass ich sie einfach nicht zurückgeben konnte!
Mit meiner Antwort begann ein sporadischer Briefverkehr über zwei Jahre, es war ein heiteres Pingpong, unterschiedliche Themen betreffend, eins ergab das andere, bevor ich ihn 1995 zum ersten Mal und von da ab regelmäßig traf. Andreas Okopenko stand mit einigen Menschen, darunter vielen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, in Briefkontakt, und ich vermute, dass er jeder und jedem das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein – weil er sich mit dieser Person auseinandersetzte, sie ernst nahm, zuhörte, ermutigte. Uns Jungen gegenüber war er aufgeschlossen und ehrlich neugierig auf unsere Arbeiten, er unterstützte nicht nur mich als Mentor. Und er verhielt sich stets loyal seiner Kolleginnenschaft gegenüber, auch wenn ihm Einzelne nicht immer grün waren – eine Eigenschaft, die ich sehr an ihm bewunderte.
Er war gar nicht „schüchtern“, wie man ihm so oft nachsagte, er legte bloß Bedacht darauf, „mit wem er sich näher einließ“, weil es für ihn mit Verantwortung verbunden war. Als es ihm später gesundheitlich nicht mehr gut ging, war es äußerst schwierig, ihn vom Beantworten all der Zuschriften abzuhalten, die sich während seiner Krankenhausaufenthalte angehäuft hatten – er blieb stur, selbst wenn es seine Kräfte überforderte. Nach dem Tod seiner beiden Ehefrauen, denen er nach den Scheidungen verbunden blieb, und seiner letzten großen Liebe, Eva-Maria „Marille“Geisler (später seiner langjährigen Freundin Elfriede Gerstl), ließ Andreas bei unseren Zusammenkünften manchmal fallen, dass er müde sei und auch er bald gehen werde.
Sein Herz und sein Körper sprachen dieselbe Sprache. Er pumpte nochmals alle Energie in letzte Schreibunternehmungen – die Dinge sollten ihre Ordnung haben. Seine letzte Lesung, zu der ich ihn begleitete, fand am 5. Mai 2010 im Keller des „Müllerbeisls“statt – danach ging alles recht rasch. Der Dichter Andreas Okopenko starb nicht, ohne eine Karin gekannt zu haben. Als er in die Palliativstation verlegt wurde, verständigte man mich sofort. Ich besuchte ihn mehrmals. Zwei Tage vor seinem Tod saßen wir einander gegenüber, ohne zu reden, ich habe nur seinen Namen genannt, öfters und in unterschiedlichen Tonlagen.
„Nur noch ein paar Schritte“, hatte er zu Wochenbeginn gesagt. „Nur noch eine Hülle“, hatte der behandelnde Arzt gesagt. Ich nahm seine Hände, wie ich sie oft im Fonds des Taxis seines treuen Chauffeurs Hans genommen hatte, wenn wir die Rapsfelder entlangfuhren – er liebte dieses Gelb, es waren seine „Lieblingsblumen“– auf dem Weg zu einem seiner Heurigen in Stammersdorf, dem „Zwergenhaus“zum Beispiel mit der dunkelhaarigen Kellnerin im Dirndl und ihrem erquicklich prall gefüllten Dekollete,´ die ihren Stammgast stets liebevoll umsorgte. Andreas mochte rundliche Frauen, mollig bedeutete für ihn Wärme und Behaglichkeit, er zwitscherte in den höchsten Tönen. Ich spürte, dass er unser Händchenhalten während der Autofahrten genoss, diese „brave“Berührung – denn so war unsere Beziehung „abgemacht“, das betonte er immer wieder.
Die gestärkte Leintuchschanze
Im Herbst 2009 hatte er mir bei einer dieser Fahrten gesagt, welchen Text ich bei unserer gemeinsam geplanten Veranstaltungsreihe „In Memoriam“im Literaturhaus Wien lesen sollte, dann, wenn er gestorben sei. Es war sein Fragment „Medea“– ein „Frauentext“, er endet so: „Ich, Verschleppte der Liebe, Naive, Intellektuelle, / knapp vor der Abfahrt, liebevoll betrachtend, / eine Kamille auf dem Perron, sorglos lächelnd, / bin der Inbegriff eines sehr heißen Sommers.“Ich weiß nicht, wie lange ich an diesem Freitag so bei ihm auf der Kante des Spitalbettes saß, irgendwann hatte ich das Gefühl, es sei Zeit zu gehen. Ich glitt von der gestärkten, weißen Leintuchschanze, löste seine Hände von meinen und legte sie ihm in den Schoß. Ich war es, eine Karin, die als junges, verwirrtes Ding, das, unglücklich in einem Dorf an der Grenze festsitzend, seine „Orte wechselnden Unbehagens“gelesen hatte und die ihm, dem großen Dichter und mir so lieb und teuer gewordenen Freund, nun als „letztes Mädchen“einen Abschiedskuss geben sollte.
Ich verließ den Raum gemeinsam mit ihm. Zwei Tage später, am 27. Juni 2010, rief man mich an und verständigte mich über seinen Tod. Er war ein Sonntag, der Beginn eines sehr heißen Sommers.