„Sogar mein Staub lacht“
Über jedem der 244 Epitaphe von Edgar Lee Masters schwebt der Umstand, dass darin Verstorbene zum Sprechen gebracht werden, die sich oft leidenschaftlich über wesentliche Momente ihrer Leben äußern. Endlich liegt das Werk in einer zweisprachigen Ausgabe v
Vor siebzig Jahren starb der 1868 geborene Anwalt und Autor Edgar Lee Masters, dessen vielfältiges Werk – Lyrikbände, Theaterstücke, Romane und Biografien – von seiner bis heute weltweit verbreiteten umfangreichen Gedichtsammlung „Spoon River Anthology“aus dem Jahr 1915 überstrahlt wird. Ab 1924 erschienen immer wieder deutschsprachige Auswahlausgaben. Jetzt liegt das Buch erstmals ungekürzt in zweisprachiger Ausgabe auf Englisch und Deutsch unter dem Titel „Die Toten von Spoon River“vor und darf als Ereignis gefeiert werden.
Einerseits ist es das pralle Kleinstadtleben des amerikanischen Mittelwestens, das gewissermaßen unter den Grabhügeln des Oak Hill Cemetery in Lewistown, dem Hauptort von Fulton County im Bundesstaat Illinois, tobt und einem in einer großen Fülle menschlicher Schicksale und Verhaltensweisen bei der Lektüre dieser 244 Epitaphe auf über 550 Seiten entgegenschlägt. Andererseits greift Edgar Lee Masters, oftmals ausgehend von realen Personen auch seines familiären Umfelds über Zitate und Anklänge weit in die Philosophie- und Literaturgeschichte aus. Wobei es der sehr belesene und dem Atheismus zugeneigte Masters schafft, immer wieder Anspielungen auf Bibelstellen organisch in seine poetischen Gebilde voll Lebenserfahrung und Menschenkenntnis einfließen zu lassen, wie ihm für seine Kunst die römische und griechische Mythologie genauso selbstverständlich verfügbar sind.
All dies gerät ihm nie zur aufgesetzten Bildungsprahlerei, sondern verschafft seiner oft ganz alltäglich daherkommenden, in freien Rhythmen verfassten Poesie zusätzlich eine funkelnde Tiefe. Ezra Pounds Begeisterung für diese Lyrik verwundert somit ebenso wenig wie Robert Seethalers Bekenntnis zu dem Buch wegen der Frage, was von einem Leben bleibe. Denn über jedem dieser Epitaphe schwebt natürlich der Umstand, dass es sich um Verstorbene handelt, die da sozusagen zum Sprechen gebracht werden und sich oft leidenschaftlich über wesentliche Momente ihres Lebens äußern (wobei bei Paaren meist beide Teile zu Wort kommen).
So lässt Edgar Lee Masters seine oft ins Gleichnishafte gehobenen Epitaphe mit Vorliebe auch in ironische oder bittere Pointen münden. Er, auf dem Bauernhof seines Großvaters aufgewachsen, gedenkt oft in poetischen Bildern der Naturfülle seiner Kindheit: „Die Kiefernwälder auf dem
Hügel / und das Bauernhaus, Meilen entfernt, / zeigen sich deutlich wie hinter einer Linse / unter dem pfauenblauen Himmel! Du gingst gedankenverloren am Ufer entlang, / wo die Kehlen der Wellen wie Nachtschwalben waren, / die unter dem Wasser sangen und weinten, / zum Wehen des Windes in den Zedern?“Wie er das menschliche Dasein zum Leben auf dem Hühnerhof werden und das Epitaph so enden lässt: „Du magst ritterlich, heroisch oder ehrgeizig, / metaphysisch, religiös oder rebellisch sein, / du wirst nie aus dem Hühnerhof hinauskommen, / es sei denn, sie werfen dich über den Zaun / zusammen mit Kartoffelschalen und anderem Abfall in den Trog!“
Das Gedicht über eine als „russische Sonia“bekannt gewordene Tänzerin schließt so: „Diese Eiche neben mir ist der Lieblingsplatz / der Blauhäher, die schwatzen, den ganzen Tag schwatzen. / Und wieso auch nicht? Sogar mein Staub lacht, / wenn er an dieses komische Ding denkt, das man Leben nennt.“Masters ergreift auch Partei, wenn er sich (politischen) Gegnern seines Vaters zuwendet, Engstirnigkeit, Verlogenheit und Bigotterie anprangert.
Selbstkritik eingeschlossen
Zugleich bleiben eigene Schwächen wie Unzuverlässigkeit in Partnerschaften nicht ausgespart. Anspielungen auf frühe Lieben sind reichlich vertreten. Über einen notorischen Schürzenjäger, der als „vortrefflicher Herzbube so manchen Stich“machte, wird die Abschüssigkeit eines Lebenslaufes deutlich gemacht: „Und die Zeit verstrich, bis ich schließlich in Mayers Restaurant lebte, / wo ich meine Tellergerichte einnahm, ein grauer, schlampiger, / zahnloser, ausrangierter Don Juan aus der Provinz.“
Ein zu Lebzeiten mächtiger Zeitungsherausgeber wiederum muss sich darüber beklagen, „hier nahe dem Fluss über der Stelle zu liegen, / wo die Abwässer vom Dorf vorüberfließen, / und leere Dosen und Müll abgeladen / und abgetriebene Kinder versteckt werden“. Dank der großen soziologischen Bandbreite dieser Epitaphe gedenkt Edgar Lee Masters auch einer Frau Kessler nen Grab schwört, „dass ich nie / ein totes Gesicht sah, ohne zu denken, es sähe aus / wie etwas Gewaschenes und Gebügeltes“.
Claudio Maira stellt in seinem Vorwort fest, dass vieles in dem Buch erfunden, „vieles aber auch verwandelt“ist, wie Masters oft beim Autobiografischen bleibt. In einem Epitaph spricht einer den Freunden der „wissenschaftlichen Bezirksvereinigung“Dank aus für einen „bescheidenen Felsblock und seine kleine Bronzetafel“, der ihm gesetzt wurde, nachdem seine Broschüre Beachtung gefunden hatte – obwohl zuvor sein Beitritt zu dieser Vereinigung zweimal abgelehnt worden war! „Trotzdem weise ich euren Gedenkstein nicht zurück, / sehe ich doch, dass, wenn ich es täte, / ich euch der Möglichkeit beraubte, euch selbst zu ehren.“– Wunderbar! Dabei ist es absolut unmöglich, aus der Überfülle auch nur einen Bruchteil der Belegstellen für die Vielschichtigkeit dieser Gedichte, die vielen Temperamente, denen sie Stimme verleihen, unterzubringen. Die ersten Texte daraus waren in einer Literaturzeitschrift erschienen, deren Herausgeber Masters offenbar durch Hinweis auf die antike „Anthologia Graeca“zu dieser Form der Sammlung inspiriert hatte.
Gerichtsverhandlungen und die Problematik von Recht und Unrecht spielen eine nicht geringe Rolle in dem Buch des brotberuflich als Anwalt tätigen Edgar Lee Masters, dessen Vater gleichfalls Anwalt war. Ins Deutsche gebracht wurde das Werk gleichfalls von einem Anwalt, dem 1974 als Sohn einer Österreicherin und eines Sizilianers geborenen Claudio Maira, aufgewachsen in Wädenswil am Zürichsee, heute tätig als Bezirksrichter in Zürich. Sein aus verschiedensten Schriften von und zu Edgar Lee Masters gespeister, aufschlussreicher Anmerkungsapparat lässt den Band zusammen mit dem englischen Original und der Übersetzung zu einer dreiteiligen Lektüre werden. Sehr hilfreich in dem sorgfältig und liebevoll gestalteten Buch: das zweite Lesebändchen.
Nicht nur ein schweres, sondern literarisch gewichtiges Werk ist es, das immer noch erheblich mehr Qualität auf die Waage