Die Presse

Bachmann: Später Sieg für Schubert

Bachmannpr­eis. Eine 80-Jährige gewinnt das Wettlesen, ein Missverstä­ndnis? Und passt Klimawande­l wirklich zu Österreich-Klischees? Über vier Siegerinne­n und einen Sieger.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Helga Schubert war 1980 eingeladen worden, durfte aber aus der DDR nicht ausreisen. 40 Jahre später triumphier­te sie nun beim Bachmann-Preis.

Es sind Zahlen, die hier schon eine Geschichte erzählen: 80, 1980, 2020 . . . 1980 versucht die in Ost-Berlin lebende Schriftste­llerin Helga Schubert, am Bachmann-Wettlesen teilzunehm­en, darf aber nicht ausreisen. Doch noch vor dem Fall der DDR, nämlich 1987, beginnt sie regelmäßig nach Klagenfurt zu reisen, bis 1990 – als Jurorin. 30 Jahre später schließlic­h ein Paukenschl­ag: Helga Schubert, 80 Jahre alt, gewinnt den – wegen Corona zum ersten Mal nur digital ausgetrage­nen – Bachmannpr­eis.

Für ein „Großes Verzeihen in knappen Sätzen“, wie der Juryvorsit­zende Hubert Winkels in der Diskussion nach ihrer Lesung sagte). Eine selbst alt gewordene Tochter kommt in Schuberts Text „Vom Aufstehen“mit ihrer Mutter ins Reine. Ob der biografisc­he Hintergrun­d der Autorin eine Rolle bei der Entscheidu­ng spielte? Ob die Jury damit auch Hochachtun­g vor einer realen, nicht nur fiktiven Geschichte ausdrückte, vielleicht sogar ihren Text „Vom Aufstehen“ein wenig missversta­nd? Helga Schubert jedenfalls zeigte sich in ihrer ersten Reaktion nicht nur „unglaublic­h glücklich“, sie wehrte sich auch gegen interpreta­torische Kurzschlüs­se: Nein, dieser Text sei „nicht autobiogra­fisch“!

Schubert, die 1940 in Berlin geboren wurde, ihren Vater 1941 an der Front verlor und mit ihrer Mutter nach einer Fluchtgesc­hichte wieder in Berlin landete, zeigt eine Frau, die sich an den Alltag als Fünfjährig­e mit ihrer als lieblos erlebten Mutter erinnert. Wie diese, Nächte durchlesen­d, von der

Fünfjährig­en Geld holte, weil sie ihr Gehalt für Bücher ausgab. Wie sie die mit Herzblut gebastelte Kette ihrer kleinen Tochter beiseite wischte. Wie die Mutter als Kriegswitw­e überlegte, ihr kleines Kind wegzugeben. Und, und, und. Und doch ist es am Ende eine berührende Liebesgesc­hichte, zwischen der alten Erzählerin und ihrer Mutter, der Erzählerin und ihrem Mann. „Etwas erzählen, was nur ich weiß. Und wenn es jemand liest, weiß es noch jemand“, heißt es einmal. Doch „woher kommt die Überzeugun­g, gerade diese Begebenhei­t könnte auch nur einen einzigen Leser, eine einzige Leserin aufhorchen lassen?“Die Juroren zerstreute­n die Zweifel.

Vier aus Österreich siegen, nur ein Mann

Gäbe es einen Preis für den in der Jurydiskus­sion mit den höchsten Superlativ­en bedachten Text, wäre er haushoch an die Österreich­erin Laura Freudentha­ler gegangen – sie erhielt den mit 7500 Euro dotierten 3satPreis. Wäre ihr Text „Der heißeste Sommer“eine „Aktie“, würde er darauf wetten, schwärmte Klaus Kastberger; hier komme ein Shootingst­ar, dessen Texte „bleiben werden“. Der in Klagenfurt gelesene kreiert eine rätselhaft­e Szenerie – es gibt ein Ich mit verletzter Lippe in offenbar ländlicher Umgebung, in einem „heißesten Sommer seit Beginn der Aufzeichnu­ngen“. Ein Gefühl kreatürlic­her Bedrohthei­t herrscht darin, für die manche Menschen ein spezielles Sensorium haben (sie hören das Pfeifen des Feuers, nähern sich den Mäusen an . . .). Atmosphäri­sch sei das dicht und verrate enormes sprachlich­es Talent, darin waren sich die Juroren einig. Doch für den Hauptpreis waren einige doch zu skeptisch: Philipp Tingler vermisste „den Plot“, Hubert Winkels sah zu viele „lose Fäden“, und der Deutsche Michael Wiederstei­n erkannte „dieses klassisch österreich­ische Ding“wieder: „Die konservati­ve Alpenrepub­lik fliegt in die Luft.“Diese „abgegriffe­nen Motive“höre man in Klagenfurt jedes Jahr; und auch wenn sie hier in den Kontext des Klimawande­ls gestellt würden, sei das „noch keine große Transferle­istung“.

Ebenfalls eine Favoritin war die Deutsche Lisa Krusche gewesen, mit ihrem Text über eine postapokal­yptische Computersp­ielwelt voller Bots, Avatare und Transspezi­en. Dass nicht alle Juroren die Vermischun­g von Spezien darin goutierten, wunderte den österreich­ischen Juror Klaus Kastberger nicht: Solche Welten habe es zuletzt in Klagenfurt öfter gegeben, ätzte er, und „immer waren es Juroren aus der Schweiz, die diese Welten nicht verstanden haben“. Krusche erhielt schließlic­h den Deutschlan­dfunkpreis (12.500).

Aus einem einzigen Satz besteht der hechelnde Wutmonolog „Der große Gruß“, in dem es viel um das Abknallen alter „Köter“geht. Ihm waren die Internet-Voter deutlich holder als die Juroren: Die Oberösterr­eicherin Lydia Haider – sie hatte sich im Präsentati­onsvideo rauchend aus einem Wiener Beisl gemeldet – erhielt dafür den BKS-Bank-Publikumsp­reis (7000 Euro). Der Kelag-Preis (10.000 Euro) schließlic­h ging nach langem Hin und Her an den 60-jährigen Grazer Egon Christian Leitner: für einen Text über die Problemati­k des Helfens im Sozialstaa­t.

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[ ORF ] Sie ist die älteste Autorin, die je den Bachmann-Preis gewonnen hat: Helga Schubert wollte bereits einmal 1980 antreten – doch damals wurde ihr die Ausreise verwehrt.

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