Randale in Stuttgarter Innenstadt
Krawalle. Hunderte Randalierer ziehen marodierend durch die schwäbische Metropole. Sie zertrümmern Auslagen, plündern, verletzen Polizisten. Wie konnte das passieren?
DEUTSCHLAND
In der Nacht auf Sonntag kam es in der Hauptstadt von Baden-Württemberg zu Straßenschlachten.
Berlin/Stuttgart. Das kurze Video zeigt einen Polizisten, der eine Frau am Boden festhält. Plötzlich läuft von links ein Mann ins Bild und springt dem Beamten mit vollem Tempo und ausgestrecktem Bein in die Schulter. Beide stürzen zu Boden. Auf anderen Handy-Aufnahmen werden Pflastersteine aus dem Boden gerissen, Scheiben eingeschlagen, Steine geworfen. Wer das Bildmaterial sieht, reibt sich ungläubig die Augen. Und das soll in der Nacht auf Sonntag in Stuttgart passiert sein? Der lang als bieder geltenden Großstadt im wohlhabenden Südwesten der Republik, die man am ehesten mit Mercedes und der „schwäbischen Hausfrau“verbindet?
Am Sonntagnachmittag zieht die Polizei im Stuttgarter Rathaus eine erste vorsichtige Bilanz über die Krawallnacht, in der 400 bis 500 junge Menschen, teilweise noch keine 18 Jahre alt, im Herzen Stuttgarts marodierten und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Mindestens 19 der 280 Polizeibeamten wurden verletzt. Zwölf Einsatzfahrzeuge (teils „Totalschaden“) und 40 Geschäfte beschädigt, neun davon auch geplündert. Die Polizei hat 24 Randalierer vorläufig festgenommen. Zwölf davon waren Deutsche, davon drei mit Migrationshintergrund. Das andere Dutzend Verdächtige hatte Pässe aus Ländern wie Somalia, Portugal, Kroatien, Iran.
„Hat es nie gegeben“
Auch die Polizei will nicht recht glauben, was sich in dieser Nacht in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg zugetragen hat. „Ich bin seit 30 Jahren Polizeibeamter und hab schon einiges erlebt“, sagt Thomas Berger, stellvertretender Polizeichef. „Aber solche Szenen hat es in Stuttgart noch nie gegeben.“Den Satz hört man an diesem Sonntag oft und in vielen Variationen.
Die Krawallnacht beginnt am Eckensee im Schlossgarten, nicht weit entfernt von der berüchtigten Stuttgart-21-Baustelle. Die Polizei kontrolliert dort einen 17-jährigen Deutschen. Es geht um ein mögliches Drogendelikt. Hunderte Feiernde solidarisieren sich nun mit ihm. Alle Hemmungen fallen. Sie werfen Flaschen, Steine, Sessel. Sie schlagen mit Stangen auf die Polizeiwagen ein, wie ein weiteres Video zeigt. Viele kleine Mobs ziehen ins Herz von Stuttgart, auf den Schlossplatz und durch die Königstraße, die der Stuttgarter Shoppingmeile nennt. Die Krawalle am
Rande des G7-Gipfels in Hamburg 2017 haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Deutschen gegraben. Und da und dort ähneln sich die Bilder von damals und heute. Zum Beispiel in dem Video, das Randalierer filmt, wie sie versuchen, die Scheibe einer Lebensmittelfiliale einzuwerfen, während schräg gegenüber das Werk schon vollbracht ist und Plünderer mit Kleidungsstücken aus einem zerstörten Geschäft laufen.
Zwischenzeitlich verliert die Polizei in dieser Nacht ihr Gewaltmonopol. „Die Situation ist außer Kontrolle“, sagt ein Sprecher. Hundert zusätzliche Einsatzkräfte werden in die 630.000-EinwohnerStadt beordert. Erst gegen 4.30 Uhr früh ist der Spuk zu Ende. Seither treibt die Republik die Frage um: Wie konnte es so weit kommen?
Stuttgart war zuletzt Schauplatz der deutschlandweit größten Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Die Kundgebungen wurden teils von Rechts- und Linksextremisten unterwandert. Es gab Übergriffe. Und der Verfassungsschutz warnte: Die linksextreme Szene in Baden-Württemberg wächst. Hatte sie ihre Finger im Spiel? Am Sonntag winken die Ermittler ab. „Ich kann eine politische Motivation für diese Gewalttaten ausschließen“, sagt Stuttgarts Polizeipräsident Franz Lutz. Die „nie da gewesene Dimension von Gewalt gegenüber Polizeibeamten“hat ihn überrascht. Aber ganz aus heiterem Himmel kam sie auch nicht, wie Lutz andeutet. In den vergangenen Wochen hat sich in der Partyszene der Stadt etwas verschoben, schildert Lutz. Die Menschen treffen sich nicht nur zum Feiern, sie kokettieren damit auch in den sozialen Medien und agitieren dabei gegen die Polizei. Stuttgarts grüner Oberbürgermeister Fritz Kuhn vermutete gar Geltungssucht in den sozialen Medien als ein Motiv für die Krawalle.
Politische Debatte entfacht
Längst hat die Krawallnacht eine politische Debatte entfacht. Nicht nur in Baden-Württemberg, wo der einzige grüne Ministerpräsident Deutschlands, Winfried Kretschmann, im März 2021 wiedergewählt werden will. Die pauschale Verunglimpfung der Polizei auch durch Politiker habe zur Enthemmung beigetragen, klagte die deutsche Polizeigewerkschaft. Das zielt wie einige Aussagen aus der CDU auf Saskia Esken. Die SPD-Chefin, just gebürtige Stuttgarterin, hatte der Polizei zuletzt einen „latenten Rassismus“unterstellt.
Die Situation ist völlig außer Kontrolle.“
Ein Stuttgarter Polizeisprecher kommentiert frühmorgens die Krawalle.