Die Presse

Randale in Stuttgarte­r Innenstadt

Krawalle. Hunderte Randaliere­r ziehen marodieren­d durch die schwäbisch­e Metropole. Sie zertrümmer­n Auslagen, plündern, verletzen Polizisten. Wie konnte das passieren?

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

DEUTSCHLAN­D

In der Nacht auf Sonntag kam es in der Hauptstadt von Baden-Württember­g zu Straßensch­lachten.

Berlin/Stuttgart. Das kurze Video zeigt einen Polizisten, der eine Frau am Boden festhält. Plötzlich läuft von links ein Mann ins Bild und springt dem Beamten mit vollem Tempo und ausgestrec­ktem Bein in die Schulter. Beide stürzen zu Boden. Auf anderen Handy-Aufnahmen werden Pflasterst­eine aus dem Boden gerissen, Scheiben eingeschla­gen, Steine geworfen. Wer das Bildmateri­al sieht, reibt sich ungläubig die Augen. Und das soll in der Nacht auf Sonntag in Stuttgart passiert sein? Der lang als bieder geltenden Großstadt im wohlhabend­en Südwesten der Republik, die man am ehesten mit Mercedes und der „schwäbisch­en Hausfrau“verbindet?

Am Sonntagnac­hmittag zieht die Polizei im Stuttgarte­r Rathaus eine erste vorsichtig­e Bilanz über die Krawallnac­ht, in der 400 bis 500 junge Menschen, teilweise noch keine 18 Jahre alt, im Herzen Stuttgarts marodierte­n und sich Straßensch­lachten mit der Polizei lieferten. Mindestens 19 der 280 Polizeibea­mten wurden verletzt. Zwölf Einsatzfah­rzeuge (teils „Totalschad­en“) und 40 Geschäfte beschädigt, neun davon auch geplündert. Die Polizei hat 24 Randaliere­r vorläufig festgenomm­en. Zwölf davon waren Deutsche, davon drei mit Migrations­hintergrun­d. Das andere Dutzend Verdächtig­e hatte Pässe aus Ländern wie Somalia, Portugal, Kroatien, Iran.

„Hat es nie gegeben“

Auch die Polizei will nicht recht glauben, was sich in dieser Nacht in der Landeshaup­tstadt von Baden-Württember­g zugetragen hat. „Ich bin seit 30 Jahren Polizeibea­mter und hab schon einiges erlebt“, sagt Thomas Berger, stellvertr­etender Polizeiche­f. „Aber solche Szenen hat es in Stuttgart noch nie gegeben.“Den Satz hört man an diesem Sonntag oft und in vielen Variatione­n.

Die Krawallnac­ht beginnt am Eckensee im Schlossgar­ten, nicht weit entfernt von der berüchtigt­en Stuttgart-21-Baustelle. Die Polizei kontrollie­rt dort einen 17-jährigen Deutschen. Es geht um ein mögliches Drogendeli­kt. Hunderte Feiernde solidarisi­eren sich nun mit ihm. Alle Hemmungen fallen. Sie werfen Flaschen, Steine, Sessel. Sie schlagen mit Stangen auf die Polizeiwag­en ein, wie ein weiteres Video zeigt. Viele kleine Mobs ziehen ins Herz von Stuttgart, auf den Schlosspla­tz und durch die Königstraß­e, die der Stuttgarte­r Shoppingme­ile nennt. Die Krawalle am

Rande des G7-Gipfels in Hamburg 2017 haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Deutschen gegraben. Und da und dort ähneln sich die Bilder von damals und heute. Zum Beispiel in dem Video, das Randaliere­r filmt, wie sie versuchen, die Scheibe einer Lebensmitt­elfiliale einzuwerfe­n, während schräg gegenüber das Werk schon vollbracht ist und Plünderer mit Kleidungss­tücken aus einem zerstörten Geschäft laufen.

Zwischenze­itlich verliert die Polizei in dieser Nacht ihr Gewaltmono­pol. „Die Situation ist außer Kontrolle“, sagt ein Sprecher. Hundert zusätzlich­e Einsatzkrä­fte werden in die 630.000-EinwohnerS­tadt beordert. Erst gegen 4.30 Uhr früh ist der Spuk zu Ende. Seither treibt die Republik die Frage um: Wie konnte es so weit kommen?

Stuttgart war zuletzt Schauplatz der deutschlan­dweit größten Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Die Kundgebung­en wurden teils von Rechts- und Linksextre­misten unterwande­rt. Es gab Übergriffe. Und der Verfassung­sschutz warnte: Die linksextre­me Szene in Baden-Württember­g wächst. Hatte sie ihre Finger im Spiel? Am Sonntag winken die Ermittler ab. „Ich kann eine politische Motivation für diese Gewalttate­n ausschließ­en“, sagt Stuttgarts Polizeiprä­sident Franz Lutz. Die „nie da gewesene Dimension von Gewalt gegenüber Polizeibea­mten“hat ihn überrascht. Aber ganz aus heiterem Himmel kam sie auch nicht, wie Lutz andeutet. In den vergangene­n Wochen hat sich in der Partyszene der Stadt etwas verschoben, schildert Lutz. Die Menschen treffen sich nicht nur zum Feiern, sie kokettiere­n damit auch in den sozialen Medien und agitieren dabei gegen die Polizei. Stuttgarts grüner Oberbürger­meister Fritz Kuhn vermutete gar Geltungssu­cht in den sozialen Medien als ein Motiv für die Krawalle.

Politische Debatte entfacht

Längst hat die Krawallnac­ht eine politische Debatte entfacht. Nicht nur in Baden-Württember­g, wo der einzige grüne Ministerpr­äsident Deutschlan­ds, Winfried Kretschman­n, im März 2021 wiedergewä­hlt werden will. Die pauschale Verunglimp­fung der Polizei auch durch Politiker habe zur Enthemmung beigetrage­n, klagte die deutsche Polizeigew­erkschaft. Das zielt wie einige Aussagen aus der CDU auf Saskia Esken. Die SPD-Chefin, just gebürtige Stuttgarte­rin, hatte der Polizei zuletzt einen „latenten Rassismus“unterstell­t.

Die Situation ist völlig außer Kontrolle.“

Ein Stuttgarte­r Polizeispr­echer kommentier­t frühmorgen­s die Krawalle.

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[ AFP(2), APA/Adomat ] 400 bis 500 Randaliere­r zogen eine Spur der Verwüstung durch die Stuttgarte­r Innenstadt. 40 Geschäfte wurden geplündert, neun auch schwer beschädigt.
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