Die Presse

Ers in Wien atmeten die Toristen wider auf

Virginia Woolf, Camus, Genet: Sie alle reisten in den Dreißigerj­ahren vom Dritten Reich nach Österreich und Italien weiter. Andere machte der Vergleich schon zuzeiten der Weimarer Republik euphorisch. Literatur II.

-

Wir müssen gestehen, das hören wir gern: So sehr der amerikanis­che Starautor Thomas Wolfe sein Reiseziel Deutschlan­d im Sommer 1927 ins Herz geschlosse­n hatte (siehe den obigen Artikel) – unter den Wienern fühlte er sich noch wohler: „Diese Menschen scheinen einer völlig anderen Zivilisati­on anzugehöre­n als die Deutschen“, schrieb er nach einer knappen Woche Aufenthalt. „Dem hiesigen Leben wohnen eine Leichtigke­it [. . .] und ein Zauber inne, die so unteutonis­ch sind wie nur was.“

Dabei war dieser Wolfe kein Tourist mit rosa Reisebrill­e. Er wusste sehr wohl: „Drei Wochen vorher hat hier eine Revolte stattgefun­den“, nach dem Brand des Justizpala­stes, „bei der vierhunder­t Menschen ihr Leben verloren haben“(tatsächlic­h waren es 94, schlimm genug). „Aber dem fröhlichen Leben sieht man das jetzt nicht mehr an“, stellte der Fremde verblüfft fest. War er Stereotype­n verhaftet? Die Deutschen beschreibt Wolfe als kraftvoll, energisch und tiefsinnig, „aber es fehlt ihnen diese wienerisch­e Empfindsam­keit und Weltläufig­keit“.

Wien sei ein „kleineres Paris“, aber die Herzlichke­it der Leute hier aufrichtig­er: „Es fehlt ihnen die sehr böse gallische Härte.“Franzosen-Bashing scheint damals Mode gewesen zu sein. John F. Kennedy notiert 1937 als rotzfreche­r Student auf Europatrip, sie seien hygienisch nachlässig, ein „primitives Volk“mit „kohligem Mundgeruch“.

Um wie viel feiner sind da die Beobachtun­gen von Virginia Woolf! Im Tagebuch der englischen Literatin hat jedes Wort Gewicht.

So auch, wenn sie 1935 nach ihrer Ankunft in Österreich vermerkt: „Wir sind nun fast außerhalb der Hörweite“der Nazis – „almost“, wohlgemerk­t.g Dennoch war sie erleichter­t. Ähnlich wie Albert Camus, dessen Romanfigur Mersault in „Der glückliche Tod“(ein Vorläufer von Meursault im „Fremden“) erst in Wien „die allzu große Last seines Schweigens“abwirft.

Richtig befreit fühlten sich beide, Virginia Woolf wie Camus, anschließe­nd in Italien, und Jean Genet erging es nicht anders. Was der Literaturw­issenschaf­tler Oliver Lubrich zurecht für bemerkensw­ert hält – immerhin war auch Mussolinis Reich eine faschistis­che Diktatur. Aber auf feinfühlig­e Reisende wirkte sie offenbar weit weniger bedrückend als Hitlers Deutschlan­d. (gau)

Newspapers in German

Newspapers from Austria