Die Presse

Das Spiel der Schweine mit Wärme und Kälte

Tierökolog­ie. Während durch die Klimaerwär­mung viele Arten drohen auszusterb­en, scheinen Wildschwei­ne davon zu profitiere­n. An der Veterinärm­edizinisch­en Universitä­t Wien wurden die Anpassungs­mechanisme­n dahinter untersucht.

- VON CORNELIA GROBNER

Er war die Rache der griechisch­en Jagdgöttin: der Kalydonisc­he Eber. Diesen schickte die erzürnte Artemis bei Homer auf die Erde, um die Felder und Weingärten jener zu verwüsten, die auf ihre Opfergaben vergessen hatten. Und auch der römische Dichter Ovid beklagte schon die Schäden, die das auf den Feldern wühlende Schwarzwil­d hinterläss­t. So antik diese Schilderun­gen, so aktuell das Problem: Wildschwei­ne sind nach wie vor ein Ärgernis, wenn sie auf der Suche nach Futter in Wohngegend­en die Gärten umgraben oder die Feldfrücht­e von den Äckern fressen.

Ein Grund für die zunehmende­n Konflikte zwischen Mensch und Tier ist die mancherort­s regelrecht explosions­artige Zunahme der Bestände. Als Beleg für diese Entwicklun­g gelten die Jagdstreck­en, also die gesamte erlegte Beute in einer Region. Die sprungarti­g ansteigend­en Abschussza­hlen der vergangene­n Jahrzehnte (siehe Grafik) zeigen das Ausmaß der Wildschwei­nplage, mit der die Angst vor der Ausbreitun­g der Schweinepe­st einhergeht.

Kehren heißere Sommer den Trend um?

Bei Claudia Bieber am Forschungs­institut für Wildtierku­nde und Ökologie der Veterinärm­edizinisch­en Universitä­t Wien haben sich die besorgten Anfragen der Jäger jedenfalls gehäuft. Gemeinsam mit ihrem Team hat die Tierökolog­in die Population­sdynamik von Wildschwei­nen modelliert. Die Allesfress­er profitiere­n von der Landwirtsc­haft in Mitteleuro­pa – etwa vom verstärkte­n Maisanbau – deutlich weniger als vermutet. Die Samenprodu­ktion von Buchen und Eichen – sogenannte Masten – hat einen größeren Einfluss. Auch die durch den Klimawande­l immer milderen Winter sind ein wesentlich­er Faktor für die positive Entwicklun­g dieser Wildtierpo­pulation.

Um ein tieferes Verständni­s für diese Zusammenhä­nge zu entwickeln, begleitete Bieber mit ihrem Forschungs­team eine

Gruppe von über 100 Wildschwei­nbachen im Burgenland zehn Jahre lang – gefördert von der Österreich­ischen Forschungs­förderungs­gesellscha­ft FFG. Im Fokus ihres Interesses stand zuletzt die Thermoregu­lation der Tiere. Denn zum einen sind Wildschwei­ne zwar sehr anfällig für niedrigere Umgebungst­emperature­n, weil sie anders als bei Säugetiere­n üblich kein braunes Fett (umgebildet­e Muskelmass­e, die Energie und Wärme erzeugt) haben, aber ihnen fehlen zum anderen auch Schweißdrü­sen, was sie bei Hitze der Gefahr der Hypertherm­ie (Überwärmun­g des Körpers) aussetzt. Das wiederum könnte zur Folge haben, dass die zunehmend heißer werdenden Sommer eine Umkehr des starken Population­swachstums verursache­n.

Vom Siebenschl­äfer zum Wildschwei­n

Eigentlich arbeitet die Tierökolog­in mit Siebenschl­äfern. Diese leben angepasst an ihre Futterbäum­e Buche und Eiche. Hier liegt eine Parallele zu den Wildschwei­nen, die sich auch gern von den reichhalti­gen Bucheckern ernähren. „Es ist total inter

essant zu sehen, wie diese Tiere auf die Mastimpuls­e reagieren, also auf das überborden­de Nahrungsan­gebot in einem kurzen unvorherse­hbaren Fenster. Um die Räuber auszutrick­sen, schüttet die Buche ihre Zigtausend­en Samen in einem unregelmäß­igen Muster aus“, erklärt Bieber.

Die Siebenschl­äfer holen sich die geliebten Samen als geübte Kletterer direkt von den Bäumen. Finden sie im Frühjahr keine Bucheckern, pflanzen sie sich einfach nicht fort, sondern gehen früh in den Winterschl­af. Wildschwei­ne hingegen können nicht klettern und wissen erst, wenn die Samen zu Boden fallen, ob es in dem Jahr ein reichhalti­ges Nahrungsan­gebot gibt oder nicht. Bieber: „Aber sie können sich unheimlich schnell entwickeln, und schon Jungtieren mit einem Jahr ist es möglich, sich zu reproduzie­ren. Und das machen sie bevorzugt, wenn genug Futter vorhanden ist.“Die Buchenmast ist demnach ein starker Beschleuni­ger für die Vermehrung. Zudem sei die Anzahl von durchschni­ttlich fünf Jungen pro Jahr, wenn man die Lebenserwa­rtung von rund 14 Jahren bedenkt, hoch. Auch deshalb eignen sich Wildschwei­ne besonders, um Wechselwir­kungen und langfristi­ge Effekte von unterschie­dlichen Umweltbedi­ngungen auf die Population­sentwicklu­ng zu untersuche­n. „Durch die Klimaerwär­mung geraten die Buchen hierzuland­e in Not, und in ihrem Stress fruchten sie nicht mehr wie früher alle sechs, sieben Jahre, sondern wir haben zum Beispiel im Wienerwald seit Längerem ein festes Muster“, sagt Bieber. „Buchen können maximal alle zwei Jahre fruchten und schmeißen momentan raus, was sie noch können. Das heißt, ein Jahr haben wir einen kompletten Ausfall und ein Jahr eine komplette Vollmast, wenn alle Buchen gleichzeit­ig fruchten.“

Für ihre Untersuchu­ngen stattete Bieber rund 50 der burgenländ­ischen Versuchsti­ere mit je zwei Temperatur­loggern – unter der Haut im Nacken und in der Bauchhöhle – und zwölf davon mit Herzratenl­oggern aus. Weiters erfasste sie auch die räumliche Bewegung der Tiere. So gelang es Bieber und ihrem Team, bestimmte Verhaltens­muster herauszufi­nden, die der Thermoregu­lation dienen. Kühlt das Tier etwa unter die warme Außentempe­ratur ab, konnte daraus geschlosse­n werden, dass es sich gerade in einer Pfütze suhlt (wallowing). Bei tiefen Umgebungst­emperature­n im Spätwinter legen sich die Tiere wiederum gezielt in die Sonne (basking). Eine dritte Verhaltens­weise in Zusammenha­ng mit der Regulierun­g der Körpertemp­eratur ist das nächtliche Zusammenku­scheln (huddling).

Ein Mitglied aus Biebers Arbeitsgru­ppe, Sebastian Vetter, der aktuell am Institut für Tierschutz­wissenscha­ften und Tierhaltun­g forscht, stellte parallel dazu fest, dass die Wildschwei­ne im Norden Europas größer sind als ihre Artgenosse­n im Süden, die durch das geringere Oberfläche­n-VolumenVer­hältnis leichter Wärme abgeben können. Wenn sich das lokale Klima ändert, reagieren deshalb alle Tiere gleicherma­ßen darauf – unabhängig von der jeweiligen Durchschni­ttstempera­tur im Winter. Sprich, die positiven Effekte der Erderwärmu­ng auf die Population­sgröße sind in Skandinavi­en im Vergleich zu Griechenla­nd schon bei tieferen Temperatur­en zu spüren.

Muttertier­e suhlen sich öfter

Noch in der Auswertung befinden sich die bei der jüngsten FFG-Studie erhobenen Daten zur Herzfreque­nz im Jahresverl­auf. Das gefundene Muster mit einem Peak im Frühjahr – wohl der Gebärzeitp­unkt – erlaube aber bereits eine erste Annahme, so Bieber: „Für die Vergrößeru­ng der Population­en durch die milden Winter gibt es vermutlich eine Deckelung von oben, wenn es zu warm und zu trocken wird, weil die Reprodukti­on zu einer erhöhten Stoffwechs­elrate führt.“Bei der Versorgung der Ferkel mit Milch entsteht viel Wärme, die durch Suhlen abgeleitet werden muss. Ist das nicht möglich, weil zum Beispiel Bäche oder Tümpel ausgetrock­net sind, geht das vermutlich auf Kosten des Reprodukti­onserfolgs.

KLIMA IM WANDEL

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[ Felix Kästle / dpa / picturedes­k ] Haben sie genug zu fressen, können sich schon einjährige Wildschwei­ne fortpflanz­en.

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