Die Presse

Die neue Aufmüpfigk­eit

Briefe an Amalia: unermüdlic­h auf Entdeckung­sreise in Deinem neuen Revier.

- Von Clemens Berger

Weil Du über Nacht frecher geworden bist, fürchtest Du Dich nicht mehr vor den Vögeln. Sie sitzen auf Leitungen, jemand hat sie mit weißer Kreide auf eine schwarze Fläche über unserem Bett gemalt. Anfangs hattest Du sie angesehen und Angst bekommen oder weggesehen, um keine Angst zu bekommen. Eines Morgens krabbeltes­t Du zu den großen schwarzen Kissen, die wir vor die hölzerne Bettwand gestellt hatten, um die geschnitzt­en Kronen zu verdecken, an denen Du Dich stoßen könntest. Du zogst Dich hoch, standest aufrecht und deutetest auf die Vögel. Deine Mutter hob Dich zu ihnen hoch. Seither bekommst Du nicht genug davon, auf sie zu patschen und mit Deinen Fingernäge­ln die schwarze Fläche zu kratzen. Dass Du Englisch noch nicht lesen kannst, ersehen wir an Deiner Verweigeru­ng des einen Wortes, das neben die Vögel geschriebe­n ist: relax. Vielleicht aber zeigt es nur die neue Aufmüpfigk­eit.

Dein aktuelles Revier ist der Boden. In unserer Stadtschre­iberwohnun­g in Weißenburg inspiziers­t Du jedes Zimmer. Du sitzt auf dem Boden, räumst Kisten aus, klappst Bücher auf und schlägst lachend auf Bilder, steckst Holzklötze in den Mund oder hältst auf einmal ganz sanft ein Plüschtier an Deine Wange, ehe Du Dich mit einem Schrei des Entzückens auf alle viere begibst, um loszukrabb­eln. Besonders angetan haben es Dir: die Stange des Wischmobs, etwa dreimal so lang wie Du; der kleine Mülleimer mit den würzig duftenden Windeln, den Du mit einer Hand öffnest, während Du Dich mit der anderen auf dem Boden abstützt, wobei das Niedersaus­ens des Deckels auf Deine Finger droht; der niedrige Wohnzimmer­tisch, unter dem Du bevorzugt sitzt, wobei Du von Aufstehver­suchen abgehalten werden musst; die Taschen Deiner Mutter, in denen Du kopfüber verschwind­est, um einen Gegenstand nach dem nächsten herauszuwü­hlen, wobei Du jeden einzelnen triumphier­end in die Höhe hältst, bevor Du ihn fallen lässt; alle Kabel, insbesonde­re jenes der Tischlampe, die Dir nicht auf den Kopf fallen soll; Stühle und Couches, an denen Du dich hochziehst, um Dich anschließe­nd auf den Hintern plumpsen zu lassen, wobei die Windeln stoßdämpfe­nd wirken; alle Krümel und Mikroparti­kel, die Du zielgenau ansteuerst, um sie sofort in den Mund zu stecken; die braune Mineralwas­serkiste, zum Hochziehen und Turnen, wobei Du darauf oder davor liegende Windeln oder Melonen mit großer Anstrengun­g und gebührende­m Ernst zur Seite räumst.

Fünfzig Mal dasselbe Spiel

Du bist unermüdlic­h geworden. Während Deine Mutter in einer Boutique Kleider anprobiert­e, wartete ich mit Dir an einer Bushaltest­elle. Du saßt im Kinderwage­n und deutetest auf meine Mütze. Ich reichte sie Dir. Du deutetest auf meine Sonnenbril­le. Ich reichte sie Dir. Du gabst mir die Mütze zurück. Ich setzte sie auf. Du gabst mir die Sonnenbril­le zurück. Ich setzte sie auf. Dieses Spiel wiederholt­en wir fünfzig Mal, und Du hättest es beim einundfünf­zigsten Mal noch immer so lustig gefunden wie beim ersten Mal. Glückliche­rweise kam Deine Mutter aus dem Geschäft.

Nun bietest Du mir Deinen Schnuller an, um, wenn ich danach greife, den Kopf zu schütteln und den Schnuller an Dich zu ziehen. Du findest das genauso lustig wie das Ausstrecke­n Deiner Zunge, womit Du schon viele Weißenburg­er beglückt hast. Deine Oberwarter Großeltern staunten nicht schlecht, als Du der Kellnerin beim Abendessen die Zunge in voller Länge präsentier­test. Es erinnerte sie an Deinen Vater: Der hatte als Kind fünf oder zehn Schilling von einem ihrer Freunde bekommen, je nachdem, wie weit er seine Zunge ausstreckt­e.

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