Die neue Aufmüpfigkeit
Briefe an Amalia: unermüdlich auf Entdeckungsreise in Deinem neuen Revier.
Weil Du über Nacht frecher geworden bist, fürchtest Du Dich nicht mehr vor den Vögeln. Sie sitzen auf Leitungen, jemand hat sie mit weißer Kreide auf eine schwarze Fläche über unserem Bett gemalt. Anfangs hattest Du sie angesehen und Angst bekommen oder weggesehen, um keine Angst zu bekommen. Eines Morgens krabbeltest Du zu den großen schwarzen Kissen, die wir vor die hölzerne Bettwand gestellt hatten, um die geschnitzten Kronen zu verdecken, an denen Du Dich stoßen könntest. Du zogst Dich hoch, standest aufrecht und deutetest auf die Vögel. Deine Mutter hob Dich zu ihnen hoch. Seither bekommst Du nicht genug davon, auf sie zu patschen und mit Deinen Fingernägeln die schwarze Fläche zu kratzen. Dass Du Englisch noch nicht lesen kannst, ersehen wir an Deiner Verweigerung des einen Wortes, das neben die Vögel geschrieben ist: relax. Vielleicht aber zeigt es nur die neue Aufmüpfigkeit.
Dein aktuelles Revier ist der Boden. In unserer Stadtschreiberwohnung in Weißenburg inspizierst Du jedes Zimmer. Du sitzt auf dem Boden, räumst Kisten aus, klappst Bücher auf und schlägst lachend auf Bilder, steckst Holzklötze in den Mund oder hältst auf einmal ganz sanft ein Plüschtier an Deine Wange, ehe Du Dich mit einem Schrei des Entzückens auf alle viere begibst, um loszukrabbeln. Besonders angetan haben es Dir: die Stange des Wischmobs, etwa dreimal so lang wie Du; der kleine Mülleimer mit den würzig duftenden Windeln, den Du mit einer Hand öffnest, während Du Dich mit der anderen auf dem Boden abstützt, wobei das Niedersausens des Deckels auf Deine Finger droht; der niedrige Wohnzimmertisch, unter dem Du bevorzugt sitzt, wobei Du von Aufstehversuchen abgehalten werden musst; die Taschen Deiner Mutter, in denen Du kopfüber verschwindest, um einen Gegenstand nach dem nächsten herauszuwühlen, wobei Du jeden einzelnen triumphierend in die Höhe hältst, bevor Du ihn fallen lässt; alle Kabel, insbesondere jenes der Tischlampe, die Dir nicht auf den Kopf fallen soll; Stühle und Couches, an denen Du dich hochziehst, um Dich anschließend auf den Hintern plumpsen zu lassen, wobei die Windeln stoßdämpfend wirken; alle Krümel und Mikropartikel, die Du zielgenau ansteuerst, um sie sofort in den Mund zu stecken; die braune Mineralwasserkiste, zum Hochziehen und Turnen, wobei Du darauf oder davor liegende Windeln oder Melonen mit großer Anstrengung und gebührendem Ernst zur Seite räumst.
Fünfzig Mal dasselbe Spiel
Du bist unermüdlich geworden. Während Deine Mutter in einer Boutique Kleider anprobierte, wartete ich mit Dir an einer Bushaltestelle. Du saßt im Kinderwagen und deutetest auf meine Mütze. Ich reichte sie Dir. Du deutetest auf meine Sonnenbrille. Ich reichte sie Dir. Du gabst mir die Mütze zurück. Ich setzte sie auf. Du gabst mir die Sonnenbrille zurück. Ich setzte sie auf. Dieses Spiel wiederholten wir fünfzig Mal, und Du hättest es beim einundfünfzigsten Mal noch immer so lustig gefunden wie beim ersten Mal. Glücklicherweise kam Deine Mutter aus dem Geschäft.
Nun bietest Du mir Deinen Schnuller an, um, wenn ich danach greife, den Kopf zu schütteln und den Schnuller an Dich zu ziehen. Du findest das genauso lustig wie das Ausstrecken Deiner Zunge, womit Du schon viele Weißenburger beglückt hast. Deine Oberwarter Großeltern staunten nicht schlecht, als Du der Kellnerin beim Abendessen die Zunge in voller Länge präsentiertest. Es erinnerte sie an Deinen Vater: Der hatte als Kind fünf oder zehn Schilling von einem ihrer Freunde bekommen, je nachdem, wie weit er seine Zunge ausstreckte.