Europa im bösen Fieber
Wien, 14. Juli 1870. Wenn wir heute aufgefordert würden, die Lage mit Einem Worte zu kennzeichnen, wenn man uns geradezu fragte: Wie steht es? – wir würden wahrlich in Verlegenheit gerathen, was wir sagen sollten. Denn wir möchten ebensowenig die Kriegsgefahr übertreiben, die unleugbar noch vorhanden ist, als verfrühte Zuversicht auf friedliche Lösung des Conflictes erwecken. Europa hat ein böses Fieber; dem Schüttelfrost folgt glühende Hitze und umgekehrt. Jeden Augenblick wechselt die Temperatur, und der Puls des modernen Verkehrslebens, die Börse, schlägt unregelmäßig und zuckend.
Vormittags weist der politische Barometer auf Veränderlich, Nachmittags auf Sturm, Abends auf Schön – wer kann es unter solchen Umständen wagen, die Ereignisse der nächsten Tage zu verkünden und kecklich auszusprechen: So wird es kommen? Der das vermöchte, der wäre Gott. Wir können nichts weiter thun, als die Nachrichten der letzten vierundzwanzig Stunden überschauen und ihre Bedeutung würdigen. Daß sich daraus immerhin einiger Trost für die Freunde des Friedens ergibt, dürfen wir vorausschicken.
Der ursprüngliche Anlaß des drohenden Zusammenstoßes zwar wäre hinweggeräumt; die Candidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern, der, wie ein Berliner Blatt versichert, gegenwärtig ganz ruhig in Reichenhall lebt, ist endgiltig aufgegeben. Da diese Nachricht in einem officiellen Pariser Telegramm gemeldet wird und man in Paris nicht die geringste Neigung zeigt, die Situation rosig zu färben, so darf man nicht mehr daran zweifeln. Die Ursache, die angeblich den ganzen Streit zwischen Frankreich und Preußen hervorgerufen, ist damit beseitigt, aber nicht die Eifersucht der beiden Mächte. Es zeigt sich jetzt mit vollkommener Klarheit, daß die Candidatur des Prinzen Leopold für Frankreich nur den Anhalt bot, um den schlummernden Zwiespalt zum Eclat zu bringen. Denn die Gefahren, welche den europäischen Frieden bedrohen, sind durch die Entsagung des Hohenzoller, die allerdings etwas spät kommt, nicht gänzlich beschworen worden.