Das Vermächtnis des John Lewis
USA. Die Nation nimmt Abschied von einem Helden der Bürgerrechtsbewegung und langjährigen Abgeordneten. Er trat stets für friedlichen Protest ein. Sein Sarg wird im Kapitol aufgebahrt.
Wien/Washington. An Gedenktagen marschierte er mit den Clintons über die Brücke, mit den Obamas und mit vielen, vielen anderen. Trotz der Coronakrise – die vor allem in den Südstaaten grassiert – waren am Sonntag zahlreiche Menschen nach Selma in Alabama gekommen. Bei dem Trauerzug samt Lafette säumten sie die Straßen und gaben John Lewis das letzte Geleit über jene Brücke, auf der er beinahe sein Leben verloren hatte – und wo er als Student an der Seite Martin Luther Kings Zivilcourage gezeigt und für die Gleichberechtigung von Schwarzen eingetreten war.
Nach dem Willen vieler Amerikaner soll die Edmund-Pettus-Brücke in Selma bald den Namen des kürzlich im Alter von 80 Jahren an einem Krebsleiden verstorbenen Bürgerrechts-Veteranen tragen. Mit Schlagstöcken hatten Polizisten 1965 auf ihn eingedroschen, und John Lewis erlitt eine Schädelfraktur. Zwei Jahre zuvor hatte er als 23-Jähriger den Marsch nach Washington mitorganisiert, wo Martin Luther King am Lincoln
Memorial seine legendäre „I Have A Dream“-Rede gehalten hatte.
Lewis zog in den 1980er-Jahren als Abgeordneter der Demokraten für den Bundesstaat Georgia in den Kongress ein, und noch im Juni inspizierte er – schon schwer gezeichnet – mit Washingtons Bürgermeisterin Muriel Bowser den Platz vor dem Weißen Haus, der neuerdings „Black Lives Matter Plaza“heißt.
Solidaritätsaktionen
Damals zeigte sich Lewis besorgt über die Eskalation der Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt und zugleich ermutigt von der politische Dynamik und den jungen Aktivisten aller Hautfarben. Er rief die Aktivisten indessen zu friedlichen Protesten auf. Die jüngsten Ausschreitungen und Unruhen in Seattle, Portland oder in Austin, wo am Wochenende ein Demonstrant zu Tode kam, waren deshalb gar nicht in seinem Sinn. Vor allem in Seattle mischten sich Randalierer unter die Menge. Tränengas waberte in den Straßen, es flogen Blendgranaten und Brandsätze.
In Seattle und am Kapitol in Washington fanden am Wochenende Solidaritätsaktionen für die Demonstranten in Portland statt. Auch in anderen Städten flammten die Proteste im Gefolge des Tods von George Floyd nach rund zehn Wochen wieder auf – in New York, Richmond, Louisville, Omaha, Oakland oder in Los Angeles. Vereinzelt kam es auch dort zu Szenen, die Präsident Donald Trump mit der Entsendung von Bundestruppen in Städte wie Portland evoziert hat.
Trump geriert sich als Hüter von Recht und Ordnung, und er nimmt eine Eskalation der Demonstrationen bewusst in Kauf, um seine Wiederwahl zu retten. Bürgermeister und Gouverneure verwahren sich vehement gegen den Einsatz von Truppen des Heimatschutzministeriums, einige haben auch Klage eingereicht. Tom Ridge, der frühere republikanische Gouverneur von Pennsylvania und erste Heimatschutzminister des unter George W. Bush in der Folge des 9/11-Terrors eingerichteten Ressorts, übte scharfe Kritik an Trump. „Die Truppen sind zum Schutz gegen den Terror geschaffen worden. Sie sind nicht die persönlichen Milizen des Präsidenten.“
In Washington hoffen viele jetzt auf eine Beruhigung der Situation. Die kommenden Tage stehen in der US-Hauptstadt im Zeichen des Abschieds von John Lewis, sein Vermächtnis des friedlichen Widerstands wird im Vordergrund stehen und von Demokraten wie Republikanern gepriesen werden.
Nicht nur für Obama ein Held
Am Samstag fand die erste Trauerfeier für Lewis in Alabama statt, den „Boy of Troy“, der ursprünglich Pastor werden wollte. Unter anderem würdigte Martin Luther King III., der Sohn des Friedensnobelpreisträger, den Mitstreiter. Zwei Tage ist der Sarg des Abgeordneten auf dem Kapitol aufgebahrt, unter der Rotunde des Kongresses – eine Ehre, die üblicherweise nur Präsidenten zuteil wird. Am Donnerstag wird sich der Kreis in Atlanta schließen. Die Ebenezer Baptist Church, die Wirkstätte von Reverend Martin Luther King, ist der Ort des Requiems für jenen Mann, der Barack Obama als großer amerikanischer Held gilt. Nach seiner Angelobung fiel Obama Lewis um den Hals und dankte ihm: „Ohne dich würde ich nicht da stehen.“