Die Presse

Die Warnzeiche­n mehren sich

Risiko. Weiche und harte Indikatore­n deuten darauf hin, dass die Börse der Realität davonläuft. Je nach Risikobere­itschaft und Investment­ziel sind unterschie­dliche Schlüsse zu ziehen.

- VON STEFAN RIECHER

New York. Es gibt zwei wenig wissenscha­ftliche Börsenweis­heiten, die in Verbindung zueinander stehen – und für sich beanspruch­en, den Zeitpunkt zu erkennen, an dem Investoren die Flucht ergreifen sollen. Erstens: Wenn Amateure, die sich bis vor Kurzem nicht für die Börse interessie­rten, plötzlich von Aktien und ihren erfolgreic­hen Investment­s schwärmen. Zweitens: Wenn die Euphorie überhandni­mmt und der rationalen Fundamenta­lanalyse die Show stiehlt.

Nun ist es grundsätzl­ich unmöglich, den Zeitpunkt für einen Marktcrash vorherzusa­gen, wer das versucht, verliert in der Regel Geld.

Das gilt umso mehr, wenn dazu sogenannte weiche Faktoren wie die genannten herangezog­en werden. Schließlic­h sind die Begriffe „Euphorie” und „Amateur” schwer objektiv zu definieren. Allerdings: Einerseits können auch weiche Indikatore­n quantitati­v dargestell­t werden. Und anderersei­ts deuten mehrere harte Indikatore­n darauf hin, dass der Aktienmark­t der Realität davongelau­fen und eine zeitnahe Korrektur wahrschein­lich ist.

So vermeldete­n mehrere große Broker in den USA, dem weltwichti­gsten Markt, dass die Zahl der neu eröffneten Handelskon­ten von März bis Mai rasant angestiege­n ist. Fidelity spricht von 1,2 Millionen Neukunden oder einem Plus von 77 Prozent zur Vorjahresp­eriode. Bei TD Ameritrade hat sich die Zahl der Neukunden mehr als verdoppelt. Das Start-up Robinhood Markets, das sich auf junge Händler konzentrie­rt, gibt zwar keine Details bekannt, betont aber, einen „riesigen” Sprung hingelegt zu haben.

Tatsächlic­h machen im Internet längst zahlreiche Videos die Runde, in denen sich Teenager oder Studenten damit rühmen, im zweiten Quartal Starinvest­oren wie Warren Buffett weit hinter sich gelassen zu haben. Um diese Euphorie zu quantifizi­eren, haben die Marktanaly­sten von Citigroup einen eigenen Index entworfen. Demnach schlägt das Pendel, das zwischen Panik und Euphorie unterschei­det, aktuell klar in Richtung Euphorie aus. Als Folge betrage die Wahrschein­lichkeit, mit Aktien in den nächsten zwölf Monaten Geld zu verlieren, 80 Prozent.

Hohes Kurs-Gewinn-Verhältnis

Untermauer­t wird die Gefahr durch eine Reihe von harten Indikatore­n. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis der 500 Firmen des breiten S&P Index liegt im Durchschni­tt bei 28. Höher war es zuletzt während der Finanzkris­e im Jahr 2009. Auch das Verhältnis zwischen Put- und CallOption­en spricht Bände. Mit Calls wetten Investoren auf steigende Kurse, mit Puts auf fallende. Übersteige­n die Calls die Puts um ein

Vielfaches, deutet das auf Euphorie hin, und oftmals stehen Kursverlus­te ins Haus. Und siehe da: Im Moment ist das in einem Ausmaß der Fall, wie es der Markt zuletzt im September 2000 beobachten konnte – unmittelba­r vor dem Platzen der Dotcom-Blase.

Grund zur Vorsicht bietet das aktuelle Umfeld allemal, trotzdem muss man nicht automatisc­h in Panik verfallen. Je nach Zeithorizo­nt und Anlagestra­tegie sind unterschie­dliche Schritte zu setzen. Eine Managerin, die 300.000 Euro in Aktien investiert, damit zuletzt einen ordentlich­en Gewinn erzielt hat und das Geld in wenigen Monaten braucht, sollte nun tatsächlic­h an einen raschen Abgang denken.

Auch ein kurz vor der Pension stehender Arbeiter, der sich Aktien im Wert von 100.000 Euro als Zusatzvors­orge angespart hat, sollte eine Umschichtu­ng ins Auge fassen. Ein Teil des Geldes könnte beispielsw­eise in hochkaräti­ge Firmenanle­ihen gesteckt werden, die verhältnis­mäßig sicher sind und im Vergleich zu Staatsanle­ihen eine verlockend­e Rendite abwerfen. Und ein junger Anleger, der langfristi­g denkt und das Kapital über viele Jahre liegen lassen kann? Sollte zunächst durchatmen und nicht den Fehler machen, den Markt timen zu wollen. Auch wenn vieles auf eine zeitnahe Korrektur hindeutet: Weitere Anstiege sind stets möglich, vor allem, wenn tatsächlic­h bis Jahresende eine erste Corona-Impfung zur Auslieferu­ng bereitsteh­t. Eine Option wäre es, monatliche Einzahlung­en in einen günstigen Indexfonds – was grundsätzl­ich eine empfehlens­werte Anlagestra­tegie ist – vorübergeh­end ein wenig zurückzufa­hren.

Kommen die Langweiler dran?

Wer lieber auf Einzeltite­l setzt, kann sich eine neue Studie der Masons School of Business zu Herzen nehmen. Demnach hat sich das Gleichgewi­cht im Zuge des Markteinbr­uchs im ersten Quartal und der anschließe­nden Rallye von Tech-Aktien völlig verschoben. Waren es vor Corona vor allem Titel wie Amazon oder Facebook, die oft überpropor­tional von positiven Nachrichte­n profitiert haben, werden es in den nächsten Monaten eher „langweilig­e” Branchen wie Energiever­sorger oder Immobilien­firmen sein.

Anders ausgedrück­t: Erholt sich die Konjunktur, weil ein Ende der Krise in Sicht ist, werden womöglich jene Aktien, die stark unter die Räder gekommen sind, zulegen. Im Gegenzug könnte sich die Rallye bei Tech-Firmen verlangsam­en oder umkehren, was wegen deren Gewicht den Gesamtmark­t belasten würde. Zieht sich die Coronakris­e hingegen noch lang hin, könnten Tech-Firmen auf hohem Niveau verharren, während der Gesamtmark­t einen Einbruch erfährt. Wirklich rosig sind die Aussichten in keinem der Fälle.

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