Die Warnzeichen mehren sich
Risiko. Weiche und harte Indikatoren deuten darauf hin, dass die Börse der Realität davonläuft. Je nach Risikobereitschaft und Investmentziel sind unterschiedliche Schlüsse zu ziehen.
New York. Es gibt zwei wenig wissenschaftliche Börsenweisheiten, die in Verbindung zueinander stehen – und für sich beanspruchen, den Zeitpunkt zu erkennen, an dem Investoren die Flucht ergreifen sollen. Erstens: Wenn Amateure, die sich bis vor Kurzem nicht für die Börse interessierten, plötzlich von Aktien und ihren erfolgreichen Investments schwärmen. Zweitens: Wenn die Euphorie überhandnimmt und der rationalen Fundamentalanalyse die Show stiehlt.
Nun ist es grundsätzlich unmöglich, den Zeitpunkt für einen Marktcrash vorherzusagen, wer das versucht, verliert in der Regel Geld.
Das gilt umso mehr, wenn dazu sogenannte weiche Faktoren wie die genannten herangezogen werden. Schließlich sind die Begriffe „Euphorie” und „Amateur” schwer objektiv zu definieren. Allerdings: Einerseits können auch weiche Indikatoren quantitativ dargestellt werden. Und andererseits deuten mehrere harte Indikatoren darauf hin, dass der Aktienmarkt der Realität davongelaufen und eine zeitnahe Korrektur wahrscheinlich ist.
So vermeldeten mehrere große Broker in den USA, dem weltwichtigsten Markt, dass die Zahl der neu eröffneten Handelskonten von März bis Mai rasant angestiegen ist. Fidelity spricht von 1,2 Millionen Neukunden oder einem Plus von 77 Prozent zur Vorjahresperiode. Bei TD Ameritrade hat sich die Zahl der Neukunden mehr als verdoppelt. Das Start-up Robinhood Markets, das sich auf junge Händler konzentriert, gibt zwar keine Details bekannt, betont aber, einen „riesigen” Sprung hingelegt zu haben.
Tatsächlich machen im Internet längst zahlreiche Videos die Runde, in denen sich Teenager oder Studenten damit rühmen, im zweiten Quartal Starinvestoren wie Warren Buffett weit hinter sich gelassen zu haben. Um diese Euphorie zu quantifizieren, haben die Marktanalysten von Citigroup einen eigenen Index entworfen. Demnach schlägt das Pendel, das zwischen Panik und Euphorie unterscheidet, aktuell klar in Richtung Euphorie aus. Als Folge betrage die Wahrscheinlichkeit, mit Aktien in den nächsten zwölf Monaten Geld zu verlieren, 80 Prozent.
Hohes Kurs-Gewinn-Verhältnis
Untermauert wird die Gefahr durch eine Reihe von harten Indikatoren. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis der 500 Firmen des breiten S&P Index liegt im Durchschnitt bei 28. Höher war es zuletzt während der Finanzkrise im Jahr 2009. Auch das Verhältnis zwischen Put- und CallOptionen spricht Bände. Mit Calls wetten Investoren auf steigende Kurse, mit Puts auf fallende. Übersteigen die Calls die Puts um ein
Vielfaches, deutet das auf Euphorie hin, und oftmals stehen Kursverluste ins Haus. Und siehe da: Im Moment ist das in einem Ausmaß der Fall, wie es der Markt zuletzt im September 2000 beobachten konnte – unmittelbar vor dem Platzen der Dotcom-Blase.
Grund zur Vorsicht bietet das aktuelle Umfeld allemal, trotzdem muss man nicht automatisch in Panik verfallen. Je nach Zeithorizont und Anlagestrategie sind unterschiedliche Schritte zu setzen. Eine Managerin, die 300.000 Euro in Aktien investiert, damit zuletzt einen ordentlichen Gewinn erzielt hat und das Geld in wenigen Monaten braucht, sollte nun tatsächlich an einen raschen Abgang denken.
Auch ein kurz vor der Pension stehender Arbeiter, der sich Aktien im Wert von 100.000 Euro als Zusatzvorsorge angespart hat, sollte eine Umschichtung ins Auge fassen. Ein Teil des Geldes könnte beispielsweise in hochkarätige Firmenanleihen gesteckt werden, die verhältnismäßig sicher sind und im Vergleich zu Staatsanleihen eine verlockende Rendite abwerfen. Und ein junger Anleger, der langfristig denkt und das Kapital über viele Jahre liegen lassen kann? Sollte zunächst durchatmen und nicht den Fehler machen, den Markt timen zu wollen. Auch wenn vieles auf eine zeitnahe Korrektur hindeutet: Weitere Anstiege sind stets möglich, vor allem, wenn tatsächlich bis Jahresende eine erste Corona-Impfung zur Auslieferung bereitsteht. Eine Option wäre es, monatliche Einzahlungen in einen günstigen Indexfonds – was grundsätzlich eine empfehlenswerte Anlagestrategie ist – vorübergehend ein wenig zurückzufahren.
Kommen die Langweiler dran?
Wer lieber auf Einzeltitel setzt, kann sich eine neue Studie der Masons School of Business zu Herzen nehmen. Demnach hat sich das Gleichgewicht im Zuge des Markteinbruchs im ersten Quartal und der anschließenden Rallye von Tech-Aktien völlig verschoben. Waren es vor Corona vor allem Titel wie Amazon oder Facebook, die oft überproportional von positiven Nachrichten profitiert haben, werden es in den nächsten Monaten eher „langweilige” Branchen wie Energieversorger oder Immobilienfirmen sein.
Anders ausgedrückt: Erholt sich die Konjunktur, weil ein Ende der Krise in Sicht ist, werden womöglich jene Aktien, die stark unter die Räder gekommen sind, zulegen. Im Gegenzug könnte sich die Rallye bei Tech-Firmen verlangsamen oder umkehren, was wegen deren Gewicht den Gesamtmarkt belasten würde. Zieht sich die Coronakrise hingegen noch lang hin, könnten Tech-Firmen auf hohem Niveau verharren, während der Gesamtmarkt einen Einbruch erfährt. Wirklich rosig sind die Aussichten in keinem der Fälle.