Die Presse

Corona-Alarm in Nordkorea

Erster Fall. Das nordkorean­ische Regime bestätigt erstmals eine mögliche Covid-Infektion. Die offizielle­n Staatsberi­chte sind möglicherw­eise ein Hilferuf an die internatio­nale Gemeinscha­ft.

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Peking/Pjöngjang. Nicht selten wird Nordkorea als das am stärksten abgeschott­ete Land der Welt betitelt. Dabei ist dessen Grenze zum chinesisch­en Festland überaus durchlässi­g: im Westen der Yalu-Fluss, im Osten der Tumen, dazwischen der heilige Berg Paektu. Auch wenn Peking seit der Jahrtausen­dwende einige Streckenab­schnitte mit Stacheldra­htzäunen abgesicher­t hat, sind die über 1400 Kilometer unmöglich militärisc­h zu sichern. Dennoch scheint Corona bislang um den Norden der koreanisch­en Halbinsel einen weiten Bogen gemacht zu haben – zumindest laut den staatliche­n Medien, die das Land für Covid-frei erklären.

Nun jedoch soll das Virus ausgerechn­et über die südliche, praktisch dichte Grenze das Land infiltrier­t haben: Ein nordkorean­ischer Flüchtling, der vor drei Jahren in den südlichen Brüderstaa­t geflohen ist, soll am 19. Juli illegal in seine Heimat zurückgeke­hrt sein. Dort soll er verdächtig­e Symptome gezeigt und sich einem ersten Virustest unterzogen haben. Machthaber Kim Jong-un hat laut der Nachrichte­nagentur KCNA umgehend eine Krisensitz­ung des Politbüros einberufen, die historisch­e Grenzstadt Kaesong˘ abgesperrt und seine Bevölkerun­g auf das Schlimmste vorbereite­t: „Jeder muss sich der Realität stellen, dass es sich um eine Notfallsit­uation handelt.“

Desolates Gesundheit­ssystem

Tatsächlic­h verfügt das bitterarme Land über ein katastroph­ales Gesundheit­ssystem. Mitarbeite­r von Hilfsorgan­isationen berichten regelmäßig in Hintergrun­dgespräche­n von Spitälern, denen es an Grundlegen­dem fehle – von Antibiotik­a bis zu einem funktionie­renden Wasseransc­hluss. Gleichzeit­ig jedoch ist das Regime mit seiner eingeschrä­nkten Bewegungsf­reiheit und der staatliche­n Überwachun­g geradezu prädestini­ert für flächendec­kende Lockdowns.

„Da Nordkorea quasi unaufhörli­ch unter Epidemien leidet, haben die Menschen eine mentale Immunität gegen sie aufgebaut. Sie können quasi ohne große Angst mit ihnen umgehen. Dies gilt auch für Covid-19“, sagt eine nordkorean­ische Übersiedle­rin, die mittlerwei­le in Südkorea als Medizineri­n arbeitet, der Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal. Tatsächlic­h sind Virusausbr­üche seit Jahrzehnte­n fast ein Dauerzusta­nd in Nordkorea – von Masern, Cholera, Typhus bis hin zu Ebola.

Trotz anfänglich­er Skepsis scheint der Corona-Alarm einen wahren Kern zu beinhalten. Am Sonntag hat das südkoreani­sche Militär bestätigt, dass man derzeit einen illegalen Grenzübert­ritt überprüfe. Dabei handelt es sich um einen 24-jährigen Mann, der vor drei Jahren nach Südkorea geflohen ist, indem er über das Delta des Han-Flusses geschwomme­n ist. Später soll er sich in Gimpo niedergela­ssen haben, einer Satelliten­stadt von Seoul.

Mehr als 33.000 Nordkorean­er haben sich seit den großen Hungersnöt­en der 1990er-Jahre in Südkorea niedergela­ssen. Der Großteil wählt dabei jedoch die Fluchtrout­e über die chinesisch­e Grenze. Übertritte über die verminte Demarkatio­nslinie zwischen dem Norden und Süden sind aufgrund des massiven Militärauf­gebots ganz selten.

Ebenso rar sind Fälle, in denen nordkorean­ische Überläufer wieder in ihr Heimatland zurückkehr­en. Zwischen 2016 und 2018 hat das südkoreani­sche Vereinigun­gsminister­ium neun Fälle gezählt. Oft handelt es sich dabei um Flüchtling­e, die sich im Süden hoch verschulde­t haben oder gegen Lebensende noch einmal ihre Familie wiedersehe­n möchten. Diesmal jedoch scheint es sich um einen Gesetzesbr­echer zu handeln: Laut südkoreani­schen Medien stand der Geflüchtet­e wegen Verdachts auf Vergewalti­gung unter Anklage.

Eine Propaganda-Aktion?

Dennoch werten die meisten Experten Nordkoreas Coronaviru­sNarrativ als Propaganda-Aktion des Regimes. Schließlic­h hat Südkorea derzeit laut Angaben der Gesundheit­sbehörden überhaupt nur mehr unter tausend aktive Coronafäll­e. Vielmehr könnten die Meldungen der staatliche­n Medien Nordkoreas eine Botschaft an die Außenwelt sein, dass das Land humanitäre Hilfe braucht.

Ob das Coronaviru­s bereits seit Längerem im Land wütet, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Südkoreani­sche Fachmedien, die ein Netz aus Bürgerjour­nalisten in Nordkorea unterhalte­n, haben wiederholt Gerüchte aufgegriff­en, etwa dass Teile der Armee unter auffällige­n Symptomen leiden. Fakt ist: Nach Ausbruch der Pandemie hat Nordkorea als erstes Land überhaupt seine Grenzen dicht gemacht, Kim Jong-un sprach von einer „unvorstell­baren Krise“. Seither hat sich der Diktator rar gemacht.

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[ AFP ] Machthaber Kim Jong-un berief in Pjöngjang eine Dringlichk­eitssitzun­g wegen des vermeintli­ch ersten Coronafall­s ein.

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