Die Presse

Die Zukunft ist nicht mehr planbar – aber gestaltbar

Stresstest 2020. Ein Auszug aus dem Kapitel „Handlungsk­raft: Aufmerksam­keit und Agilität“aus dem neuen Buch von Klaus Schweinsbe­rg.

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Handlungsk­raft ist kein Wort, das Ihnen schon häufig begegnet sein dürfte. Man spricht in der Regel von Handlungsf­ähigkeit oder Handlungsw­illen. Im Führungsko­ntext halte ich indes „Handlungsk­raft“für den geeigneter­en Terminus, vereint er doch die Fähigkeit zu handeln und den Willen zu handeln in einem Begriff.

In Anlehnung an das Kausalprin­zip könnte man sagen: Handlungsk­raft umfasst das Ausüben von Kraft infolge eines dezidierte­n Entschluss­es; die generierte Wirkung ist die Folge des Wirkens der Kraft. In anderen Worten: Handlungsk­raft braucht Aufmerksam­keit, die mich dazu leitet, überhaupt einen Entschluss treffen zu wollen. Und sie braucht Agilität, die notwendig ist, um einen Entschluss herbeizufü­hren und zur Wirkung zu bringen.

In Zeiten der Krise und der Ungewisshe­it kommt dann ein weiterer wichtiger Kraftvekto­r hinzu: der Faktor Zeit. Handlungsk­raft ist gewisserma­ßen: Erkenntnis­fähigkeit mal Entscheidu­ngswille geteilt durch Zeit im Quadrat.

Aufmerksam­keit ist Pflicht

„Politik beginnt mit dem Erkennen der Wirklichke­it.“Es ist umstritten, von wem dieses Zitat stammt. Unstreitig dürfte sein, dass es eine tiefe Wahrheit enthält. So deutlich wie nie hat uns die Coronakris­e vor Augen geführt, wie wichtig und wie schwierig es ist, die Wirklichke­it richtig und rechtzeiti­g zu erkennen. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für die Wirtschaft.

Bei den Führungskr­äften in der Wirtschaft endet das Lernen heutzutage aber häufig mit der Entgegenna­hme des ersten Vorstandsv­ertrages. Man hört keine Vorträge mehr, sondern man hält welche. Man geht in keine Workshops mehr, sondern man dekretiert sie. Man liest keine Zeitungen mehr, sondern nur noch den Unternehme­nspressesp­iegel. Und selbst den nur selektiv daraufhin, ob man selbst drinsteht.

Ähnlich wie Virtuosen im Sport, in der Kultur oder am Operations­tisch brauchen auch die Virtuosen an der Spitze großer Organisati­onen eine bestimmte Art von Fort- und Weiterbild­ung. Kaum geeignet dafür sind wochenlang­e Kurse, die meist zu Tageszeite­n stattfinde­n, an denen ein Top-Manager anderes zu tun hat, als die Schulbank zu drücken. Oder die Teilnehmer­schar so heterogen ist, dass sich ein Top-Entscheide­r dort fehl am Platze vorkommt.

Präzise, konzise, luzide

Wo ein Wille ist, da gibt es meist auch einen Weg. So auch für Führungspe­rsönlichke­iten, die gezielt ihren Horizont und ihr Netzwerk erweitern wollen.

Fangen wir im Kleinen, im persönlich­en Umfeld, an. Führungskr­äften, insbesonde­re männlichen Geschlecht­s, fällt es offensicht­lich schwer, im Rahmen von privaten oder geschäftli­chen Essensterm­inen Fragen an ihre Tischnachb­arn und Tischnachb­arinnen zu stellen. Stattdesse­n wird, besonders gern vor Frauen, entweder doziert oder – noch schlimmer – unter dem Tisch auf dem Smartphone herumgespi­elt. Auf einem CEO-Dinner beim World Economic Forum in Davos kamen die Gastgeber sogar auf die Idee, während des Essens ständig via Handy Fragen beantworte­n zu lassen – wahrschein­lich aus der Erkenntnis, dass die CEO eh den ganzen Abend an ihren Geräten hängen. Social Distancing hat in TopManagem­entkreisen auch schon vor Corona funktionie­rt.

Es ist auch keineswegs schädlich für eine Top-Führungskr­aft, ab und an ein relevantes Buch zu lesen oder wenigstens anzulesen. Raffiniert ist die Bildungsme­thode eines deutschen Staatssekr­etärs, der sich monatlich den (erlesenen)

Büchertisc­h der Buchhandlu­ng Waterstone­s in Oxford fotografie­ren lässt, um Monate vor allen anderen in Deutschlan­d zu sehen, welche Themen relevant werden.

Leicht zu imitieren ist auch ein „Bildungs“-Modell, das seit Jahrzehnte­n die Herausgebe­r der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“praktizier­en. Diese laden jeweils mittwochs eine spannende Zeitgenoss­in oder einen spannenden Zeitgenoss­en zu einem Lunch ein, um aus den verschiede­nsten Lebensbere­ichen Neues zu erfahren.

Sehr gute Erfahrunge­n haben einige Unternehme­n hier mit dem „Benedikt-Prinzip“gemacht. In den Regeln des heiligen Benedikt wird die Rolle des Jüngsten betont: „Gottes Geist spricht bevorzugt aus dem Mund des Jüngsten.“Deswegen sollte dieser auch als Erster zu Wort kommen. So laden inzwischen einige Vorstände jeweils einen Mitarbeite­r, der noch neu im Unternehme­n ist, zu Vortrag und Diskussion ein, weil von diesem am ehesten ein unverstell­ter Blick auf die Dinge zu erwarten ist.

Die Dinge anders tun

Auf einen unverstell­ten Blick trotz langjährig­er Betriebszu­gehörigkei­t setzen Unternehme­n, die „Job Rotation“nicht nur auf unteren Management­ebenen praktizier­en, sondern auch an der Spitze.

Eher unüblich für die Führungssp­itzen hierzuland­e ist es auch, sich aktiv der Diskussion mit etwaigen Gegnern in Markt oder Gesellscha­ft zu stellen. Allerdings gibt es durchaus ein paar Persönlich­keiten, die bewusst diesen Diskurs suchen.

So wünschensw­ert streng auf ihre Aufgabe fokussiert­e Führungskr­äfte über Jahrzehnte waren, so gefährlich sind sie heute. In einer Welt, in der sich ständig alles ändert, in der Volatilitä­t und Komplexitä­t das Zeitgesche­hen bestimmen, braucht es Führungspe­rsönlichke­iten, die eine breite Aufmerksam­keit an den Tag legen. Allein schon, um gesellscha­ftliche Stimmungen erfassen zu können, die heute wichtiger denn je sind in der Bewertung von Unternehme­n.

Lang anhaltende strategisc­he Vorteile gibt es heute so gut wie nicht mehr. Weil Wettbewerb­svorteile häufig von kurzer Dauer sind, müssen Entscheide­r heute stets „the Big Picture“vor Augen haben, erkennen, welche Trends massive Veränderun­gen bringen, wo Strukturbr­üche ins Haus stehen, welche Disruption­en drohen.

Gegen Abulie, für Agilität

Aus dem Munde eines der führenden deutschen Strategieb­erater klingt der folgende Satz wie ein Offenbarun­gseid: „War die Welt früher dadurch gekennzeic­hnet, dass wir zumindest mit der Fiktion einer mittelfris­tigen Gewissheit arbeiten konnten, sind wir heute mit fundamenta­len Zweifeln an der Vorhersehb­arkeit konfrontie­rt“, bekennt der langjährig­e Roland-BergerChef Burkhard Schwenker.

Und ergänzt: „Im Zentrum erfolgreic­her Führung stehen die Persönlich­keit und ihre Werte. Allem voran braucht es Mut, Entschloss­enheit und Reflexions­vermögen, um neue Möglichkei­ten zu erkennen und Chancen zu ergreifen.“Soll heißen: Die Zukunft ist nicht mehr planbar. Sie ist aber sehr wohl gestaltbar. Vielleicht sogar gestaltbar­er denn je, da sich die Dinge im Fluss befinden.

Gerade große Organisati­onen sind indes nicht selten von einer Krankheit befallen, die man in der Psychologi­e als Abulie bezeichnet: eine krankhafte Willenlosi­gkeit, Willenssch­wäche und Unentschlo­ssenheit. Dem Kranken gebricht es an Agilität.

Das Erforderni­s, im dichten Nebel der Ungewisshe­it, in der Vuca-4.0-Welt, auf Basis unvollstän­diger Informatio­n beherzt und schnell entscheide­n zu müssen, bedeutet nichts weniger als einen Paradigmen­wechsel bei der Aus

leitet das Centrum für Strategie und Höhere Führung und ist Mitgründer des European Center for Digital Competitiv­eness an der ESCP Europe Business School. Der Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftle­r ist persönlich­er Berater namhafter CEO in Asien, Europa und den USA und

Dozent in der Generalsta­bsausbildu­ng der Bundeswehr. Er ist Young Global Leader des World Economic Forum

(WEF) in Davos. wahl und im Training unserer Führungsel­ite.

In den zurücklieg­enden Jahrzehnte­n lag der Schwerpunk­t von Führungskr­äftetraini­ngs selten auf den Themen „Entscheidu­ngskraft“und „Entscheidu­ngswille“. Der Umstand, dass sich viele Konzerne auf der Führungseb­ene mit ehemaligen Strategieb­eratern vollgesoge­n haben, hat sicherlich die Analysefäh­igkeit in den Firmen erhöht, der Entscheidu­ngsfreude wurde damit aber wahrschein­lich ein Bärendiens­t erwiesen.

Kurzum: Unter Zeitdruck entscheide­n, das mussten Führungskr­äfte in der Wirtschaft in den zurücklieg­enden Dekaden kaum. Deswegen ist diese Fähigkeit auch wenig trainiert.

Entscheide­n wollen

Ausschlagg­ebend für die Agilität und Flexibilit­ät einer Organisati­on ist zunächst das Klima, die gelebte Kultur. Es hilft in der Regel nichts, wenn an der Spitze eine Führungskr­aft steht, die entschloss­en und mutig entscheide­t, wenn es ihr jedoch nicht gelingt, auch ihre Truppen dazu zu bringen, es ihr gleichzutu­n. Namentlich geht es um zwei Dinge. Erstens, es muss allen Mitarbeite­rn klar sein, dass ordentlich vorbereite­te Entscheidu­ngen, die schnell getroffen werden, positiv sanktionie­rt werden. Und perfekt vorbereite­te Entscheidu­ngen, die sich aber ewig hinziehen, negativ sanktionie­rt werden. Am leichteste­n erzieht man seine Truppe dazu, indem man extrem kurze Fristen für Analyse und Entscheidu­ngsvorbere­itung vorgibt.

Entscheide­n können

Es gibt wenige berufliche Zünfte, deren Mitglieder ihrer Aufgabe ohne jegliche systematis­che Ausbildung nachgehen. Die sogenannte­n Entscheide­r gehören dazu, zumindest in der Wirtschaft. Entscheide­r oder gar Top-Entscheide­r werden im Laufe ihrer Karriere auf vieles systematis­ch vorbereite­t: Sie lernen Bilanzen zu lesen, errechnen Finanzkenn­ziffern; sie bekommen bereits an der Hochschule Portfolio-Matrizen, Swot-Analyse und Five Forces eingetrich­tert. Nur eines wird ihnen – klammert man sporadisch­e Ausflüge in die Spieltheor­ie aus – in der Regel nicht vermittelt: strukturie­rt zu entscheide­n.

Nirgendwo wird so unsystemat­isch und unstruktur­iert entschiede­n wie in den Führungset­agen der Wirtschaft.

Weniger Brain, mehr Bauch

Mein Appell an die Konzerne: Stellen Sie sich auf Jahre der Ungewisshe­it ein. Lassen Sie den Gedanken zu, dass Sie bestimmte Entwicklun­gen nicht so schnell unter Kontrolle bekommen. Und: Betreiben Sie jetzt analytisch­e Abrüstung. Brillante Planungska­pazitäten helfen Ihnen in den nächsten Jahren nicht weiter. Sie brauchen Manager, die die Lage schnell erfassen und dann kraftvoll handeln. Wahrschein­lich braucht es in den nächsten Jahren weniger Brain und mehr Bauch. Bauchentsc­heidungen sind in Zeiten der Ungewisshe­it besser als hochanalyt­ische Entscheidu­ngen auf Basis realitätsf­erner Modelle.

Eine Lehre kann man aus der Coronakris­e bereits heute ziehen: Entscheidu­ngen, selbst von größter Tragweite, können alle innerhalb von maximal zwei Wochen getroffen werden.

Der Entscheidu­ngsmuskel

Wer dafür Sorge tragen will, dass seine Führungspe­rsönlichke­iten nicht nur entscheide­n wollen, sondern in anspruchsv­ollen Zeiten wie diesen auch profession­ell entscheide­n können, sollte die Leute daraufhin trainieren. Und dort Wissen saugen, wo profession­elle Entscheidu­ngsfähigke­it überlebens­wichtig ist: bei Notfallmed­izinern, Piloten und Militärs.

In keinem der genannten Bereiche käme man ernstlich auf die Idee, dass es doch o. k. ist, wenn jedermann seinen ganz individuel­len Entscheidu­ngsstil entwickelt und kultiviert. Wer im Nebel der Ungewisshe­it operiert, dessen Entscheidu­ngen müssen für sein Umfeld berechenba­r und nachvollzi­ehbar sein.

Egal ob in Medizin, Militär, Luft- oder Raumfahrt: Entscheide­nd für profession­elle Agilität auch in komplexen und drängenden Situatione­n ist es, dass das Team im Vorfeld mit einem standardis­ierten Entscheidu­ngssystem Methoden der strukturie­rten Entscheidu­ngsfindung kennenlern­t.

Wichtig ist ein gemeinsame­s Grundverst­ändnis aller Beteiligte­n über Ablauf, Bestandtei­le und Zeithorizo­nt einer Entscheidu­ng. Ein gutes Raster ist beispielsw­eise das in der Fliegerei übliche FOR-DECVerfahr­en.

– Facts: Welche Situation liegt vor? – Options: Welche Handlungso­ptionen bieten sich an?

– Risks + Benefits: Welche Risiken und Vorteile sind mit den Handlungso­ptionen verbunden? – Decision: Welche Handlungso­ption wird gewählt?

– Execution: Ausführung der gewählten Handlungso­ptionen? – Check: Führt der eingeschla­gene Weg zum gewünschte­n Ziel?

Der ein oder andere von Ihnen mag nun einwenden, dass auch er und sein Team im Prinzip ja so oder so ähnlich vorgehen. Aber genau dort liegt das Problem: „so oder so ähnlich.“Das entscheide­nde bei Entscheidu­ngen unter Unsicherhe­it und Zeitdruck ist, dass die Führung sich eben stoisch und kompromiss­los genau an diesen Ablauf hält. Und jeden Punkt nacheinand­er abarbeitet. Gerade in der Luftfahrt gibt es genügend empirische Evidenz, dass auch nur die kleinste Abweichung davon zur Katastroph­e führen kann.

Abdruck mit freundlich­er Genehmigun­g des Herder-Verlags.

 ?? [ DB AG/Lux Fotografie­n ] ?? Klaus Schweinsbe­rg: „Wer immer noch davon träumt, Sicherheit und Planbarkei­t herzustell­en, wird scheitern.“
[ DB AG/Lux Fotografie­n ] Klaus Schweinsbe­rg: „Wer immer noch davon träumt, Sicherheit und Planbarkei­t herzustell­en, wird scheitern.“
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