Die Presse

„Elektra“und die Leidenscha­ft fürs Sachliche

Salzburg III. Jubel für „Elektra“zum Hunderter der Festspiele: Auˇsrine˙ Stundyt˙e meistert die Titelparti­e auf lyrischer Basis, bei Franz Welser-Möst am Pult und Regisseur Krzysztof Warlikowsk­i regieren der analytisch­e Blick auf das Rachedrama.

- VON WALTER WEIDRINGER

Wenn endlich das initiale Agamemnon-Motiv im Orchester aufzuckt, diese ehernen, scharfen Töne des d-Moll-Dreiklangs, dann hat das Publikum in der Felsenreit­schule schon einen szenischen Prolog hinter sich – als sei dieser „Elektra“noch nicht genug vorangegan­gen. Die erste Zusammenar­beit von zwei der Gründervät­er, Hugo von Hofmannsth­al und Richard Strauss, ein Jahrhunder­twerk schon für sich genommen, wurde emblematis­ch zum Hunderter der Salzburger Festspiele aufs Programm gesetzt. Doch dann die lange Ungewisshe­it in Zeiten der Pandemie . . .

Der Moment, wenn die Masken fallen

Alle Bedenken scheinen vergessen. Das Publikum wird – nach durchaus herkömmlic­hen Drängeleie­n in der Hofstallga­sse und den Foyers – erinnert, den verpflicht­enden Mund-Nasen-Schutz erst bei Beginn der Vorstellun­g abzunehmen. Die realen Masken im Auditorium, das trotz obligatori­sch freier Plätze stattlich gefüllt wirkt, sie dürfen in dem Moment fallen, wenn die Protagonis­ten auf der Bühne ihre metaphoris­chen Masken anlegen: Der Festspielk­ult erneuert sich mit archaische­r Anmutung.

Doch zunächst zirpen Grillen, eine Frau wankt an die Rampe, an der ein Mikrofon für sie bereitsteh­t wie für eine Diseuse: Klytämnest­ra. Schwer ächzend, dann in höchster Erregung und stolz berichtet sie, Agamemnon gerichtet zu haben, ihren ungetreuen Gatten und Mörder der Tochter Iphigenie – es ist ein Monolog von Aischylos. Freilich, wer Klytämnest­ra nur als Mörderin verabscheu­t, wer in Elektra allein die schrille Rachefurie erblickt und Chrysothem­is bloß als künftiges Heimchen am Herd belächelt, der hat bei Strauss’ „Elektra“schon bisher nicht gut aufgepasst. Regisseur Krzysztof Warlikowsk­i will trotzdem auf Nummer sicher gehen, also gibt’s vorab Nachhilfe im Fach Mythos – mit diesem Akt weiblicher Selbstermä­chtigung. Der Beginn eines Abends, der mehr der fasziniert­en intellektu­ellen Distanz gehört als der emotionale­n Überwältig­ung.

Kein Krach, keine Schlampere­i

Dass diese Deutung auch in der Folge stereotype­n Rollenauff­assungen zuwiderläu­ft, dafür sorgen szenische und musikalisc­he Auffassung Hand in Hand – weit entfernt von jenen ekstatisch­en Gefühls- und Lautstärke­eruptionen en masse, die man in Repertoire­vorstellun­gen der „Elektra“oft hört, wenn Überschwan­g mit unbekümmer­tem Krach einhergeht und in dem Glauben erzeugt wird, der Notentext enthalte ohnehin nur Näherungsw­erte. Für solche Schlampere­ien liest Franz Welser-Möst die Partitur einfach zu genau – die Wiener Philharmon­iker folgen ihm und, noch wichtiger, den Stimmen auf der Bühne mit gespitzten Ohren und klanglich immer wieder auf präzise gesetzten

Samtpfoten. Die Felsenreit­schule sorgt freilich schon von sich aus dafür, dass es nicht so knallt wie manchmal in der Staatsoper, wenn auch die Akustik etwas Glanz abzieht. Die klassische Avantgarde wallet und siedet und brauset und zischt ja in dieser Partitur, noch aus den Ritzen und Klüften des monumental­en Tonsatzes mit seinem Dickicht aus Leitmotive­n, die enorme melodische Blüten treiben können, dringen unzählige lautmaleri­sche Pflänzchen hervor. Doch anderswo dünnt sich das Ganze immer wieder aus auf kammermusi­kalische, solistisch­e Dimensione­n. Das alles will genau dosiert sein. Mag sein, dass man im ersten Drittel des Abends noch etwas die angezogene­n Tempobrems­en hören konnte und erhöhte rhythmisch­e Prägnanz den durchwegs subtil gemischten Farben und oft überrasche­nd transparen­ten Strukturen noch besser getan hätte. Aber das und kleine Wackler hin oder her: Schon ab Elektras Monolog gelang Welser-Möst und den Philharmon­ikern bei betont kühlem Kopf eine Interpreta­tion, deren sozusagen brennende Leidenscha­ft fürs Sachliche beeindruck­te.

Auffällig war auch die präzise Arbeit an Hofmannsth­als psychoanal­ytisch inspiriert­em Text. Freilich hat Tanja Ariane Baumgartne­r den Startvorte­il der Mutterspra­che – aber es lohnt sich, wenn die Klytämnest­ra einmal nicht durch die in Ehren erworbenen stimmliche­n Mängel einer langen dramatisch­en Karriere wirken muss, sondern in den besten stimmliche­n Jahren steht – wobei aus dem saftigen, charakterv­ollen Mezzosopra­ntimbre im plastische­n Vortrag manchmal ein Schuss Lipovsekˇ hervorleuc­htet. Zumal Warlikowsk­i sie nicht als verkommene Vettel zeigt, sondern als attraktive Frau.

Blackbox des diskreten Familienmo­rds

Bühnenbild und Kostüme von Małgorzata Szcze˛sniak´ platzieren sie in ein High-SocietyAmb­iente des 20. Jahrhunder­ts, mit Mägden in Dienstmädc­henuniform­en. Den Palast repräsenti­ert ein luxuriös gemeinter Glaskobel, in dem immer, wenn’s zur blutigen Sache geht, das Licht ausgeknips­t wird: eine Blackbox des diskreten Familienmo­rds. Ein schmaler, seichter Pool zieht sich über die rechte Bühnenhälf­te. Mehrfach steigen Figuren von einst und jetzt ins Wasser, der von Elektra imaginiert­e Agamemnon etwa, der im Bad erschlagen worden ist. Und Klytämnest­ra zeigt Ansätze eines Waschzwang­s. Mit den finalen Morden schiebt sich der Palast über das Wasser, als schließe sich eine Wunde.

Bei Elektra, die trotz etwas wirrem Haar ein adrettes Sommerklei­d, Weste und Umhängetas­che trägt, lautet die Aussage wohl: Verwahrlos­ung ist ein innerer Zustand. Ausrinˇe˙ Stundyte˙ gelingt ein imponieren­des persönlich­es Rollendebü­t, im Detail ebenso wie konditione­ll – dies wohl auch dank der üblichen Striche. Ihr kluger Vortrag hat etwas von der Exaltierth­eit der Herlitzius, aber gewürzt mit viel erdhaftere­m Timbre. Kaum je sind einer Sopranisti­n die dramatisch­en hohen Cs so mühelos und sicher aus der Kehle geströmt. Die vielen lyrischen Prüfstelle­n meistert sie mit zart leuchtende­m Klang – und wirkt damit tatsächlic­h unerhört jung und verletzlic­h.

Sanfter Orest im Norwegerpu­lli

Stimmlich beinah robuster, aber zugleich um Nuancen zu stählern und gleißend, zu wenig geschmeidi­g klingt daneben Asmik Grigorian als Chrysothem­is: Auch ein aufgetakel­tes It-Girl, so die szenische Botschaft, sehnt sich vielleicht „nur“nach Familie und Kindern. Derek Welton stößt als anfangs etwas unruhig tönender, jedenfalls sanftmütig­er, von seinem Vorhaben überforder­ter Orest im Norwegerpu­lli auf die traumatisi­erten Reste seiner Familie: Die Erinnyen, die in einer riesigen Projektion auf die Felswand schließlic­h als Tornado aus Fliegen den Blutspritz­er umschwirre­n, verfolgen ihn bis in den Wahnsinn.

Auch wenn es in der Aufführung­sgeschicht­e schon Damentrios gegeben hat, die sich deutlich tiefer ins Gedächtnis eingraben konnten: Dieser „Elektra“ist der Platz in der Historie nicht abzusprech­en.

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[ APA/Barbara Gindl] Tanja Ariane Baumgartne­r als Klytämnest­ra (links), Auˇsrine˙ Stundyte˙ als Elektra.

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