Die Probleme des neuen Ampelmodells
Analyse. Vier Indikatoren werden für die Warnstufen Grün, Gelb, Orange und Rot herangezogen. Keine einzige von ihnen lässt sich aber klar definieren.
Die vier Indikatoren für die Warnstufen der Corona-Ampel lassen sich nicht klar definieren.
Wien. Damit die Entscheidungen des jeweiligen Krisenstabs der Bundesländer für die Bevölkerung nachvollziehbar und transparent sind, wird sie sehnsüchtig erwartet: die Corona-Ampel, die ab September auf Basis von vier Kriterien Rückschlüsse auf die Gefährdungslage in einzelnen Bezirken zulassen soll – ersichtlich auf einen Blick anhand von vier Farben.
Grün bedeutet niedriges Risiko, Gelb mittleres, Orange hohes und Rot eine Akutsituation. Derzeit wäre die Ampel im Großteil Österreichs auf Grün, in Regionen mit lokalen Ausbrüchen wie zuletzt am Wolfgangsee oder in Emmersdorf im Bezirk Melk auf Gelb. Wahrscheinlich auch in Wien, was schon zu den ersten Problemen führen würde.
Zahl der Tests
Obwohl es in Österreich mittlerweile umfassende Testangebote und kaum Kapazitätsprobleme gibt, hat die bisherige Strategie einen entscheidenden Makel – sie besteht aus nur einmaligen Testungen, die somit lediglich eine Momentaufnahme mit wenig Aussagekraft sind. Vor allem am Beispiel von Reiserückkehrern wird das Risiko dieses diagnostischen Fensters deutlich. Sie sollen bei der Einreise einen Test vorweisen, der nicht älter als 72 Stunden ist, oder diesen innerhalb von 48 Stunden nachholen.
Abgesehen davon, dass rund 20 bis 30 Prozent der negativen Tests falsch sind (falsch positive Tests hingegen gibt es so gut wie nie), wurde von Virologen wiederholt davor gewarnt, sich auf nur einen negativen Test zu verlassen. Schließlich ist das Virus erst zwei bis vier Tage nach der Ansteckung nachweisbar. Rückkehrer, die einen drei Tage alten negativen Test vorweisen und sich nicht in Heimquarantäne begeben müssen, können sich also kurz vor oder nach dem Test angesteckt haben.
Das gilt selbstverständlich nicht nur für eingeschleppte Infektionen. Auch beim Contact Tracing nach einer Cluster-Bildung in Österreich können Kontaktpersonen negativ getestet werden, weil sie sich erst vor Kurzem angesteckt haben – und unbemerkt weitere Personen infizieren. Labormediziner fordern seit Langem, dass Verdachtsfälle zweimal im Abstand von zwei bis drei Tagen getestet werden, um auf Nummer sicher zu gehen – wie das bei Pflegekräften aus dem Ausland schon gemacht wird, da ihre Klienten zur Hochrisikogruppe gehören.
Das diagnostische Fenster ist nicht die einzige Unschärfe beim Testen. Welche Alters- bzw. Berufsgruppen in Österreich getestet werden, obliegt immer noch im Wesentlichen den lokalen Behörden – und beruht zudem auf Freiwilligkeit. Gegen seinen Willen darf also niemand getestet werden, der nicht als eindeutiger Verdachtsfall gilt.
Im Tourismusbereich beispielsweise muss sogar die Initiative vom Personal bzw. von den Betrieben selbst ausgehen – weswegen die angekündigten 65.000 Tests pro Woche nicht einmal ansatzweise erreicht werden, da die Hotellerie bei positiven Befunden das Ausbleiben von Gästen oder behördliche Schließungen befürchtet.
Die Anzahl an Tests auf Bezirksebene miteinander zu vergleichen und daraus Entscheidungen abzuleiten, ist also ein unsicheres und umstrittenes Unterfangen, weswegen sich in den Bundesländern von Anfang an Widerstand gegen die Ampel regte und noch regen wird.
Infizierte/Cluster
Die Zahl der bestätigten Fälle innerhalb von sieben Tagen (im Verhältnis zu den Einwohnern und den durchgeführten Tests) sowie die Nachvollziehbarkeit von Infektionsketten stellen zwei weitere Indikatoren für die Warnstufen der Ampel dar. Mit anderen Worten: Ist ein regionaler Ausbruch schnell und leicht eingrenzbar, wie das etwa bei einem Rotarier-Treffen in Salzburg vor ein paar Wochen der Fall war, hat das weniger Konsequenzen als der Freikirchen-Cluster in Oberösterreich, der Großfamilien mit Dutzenden Kindern betraf, die unterschiedliche Schulen besuchten und in mehreren Betreuungseinrichtungen untergebracht waren – 250 Menschen wurden im Zuge der Kontaktverfolgung bisher positiv getestet.
Allein am Beispiel dieser beiden Cluster ist ersichtlich, dass Infektionsketten schwer miteinander vergleichbar sind und von zahlreichen Faktoren abhängen wie: Wie schnell wird der Patient null ermittelt? Gibt es unter den Infizierten einen Superspreader? Hat sich der Ausbruch in einem Tourismusort oder einer Grenzregion mit viel Reiseverkehr ereignet? Wird das Contact Tracing durch Verständigungsprobleme erschwert?
Dass es die lokalen Behörden und auch die Bevölkerung nicht immer als gerecht und verhältnismäßig empfinden werden, wenn in unterschiedlichen Bezirken, in denen jeweils ein Cluster mit zunächst ähnlich vielen Infizierten entdeckt wird, von Wien aus die gleichen Maßnahmen angeordnet werden, ist also programmiert.
Dafür bergen diese beiden Indikatoren zu viel Interpretationsspielraum. In Wien kommt hinzu, dass der Krisenstab Bezirksgrenzen wegen ihrer Durchlässigkeit komplett ignorieren und immer nur für die ganze Stadt gültige Regeln aufstellen will – was quasi eine Forderung nach einer Ausnahmereglung ist, die angesichts der Größe und Struktur Wiens durchaus sinnvoll erscheint, aber eben auch die Bestimmungen der Ampel konterkariert; auch andere
Städte und Länder könnten auf die Idee kommen, dass ihnen eine Sonderbehandlung zusteht.
Übrigens: Rund die Hälfte der Infektionen waren bisher keinem Cluster zuzuordnen, was sie natürlich noch gefährlicher macht, weil ihr Ursprung nicht eruiert werden kann. In Österreich muss also von zahlreichen unsichtbaren Clustern ausgegangen werden, die aber angesichts der Lockerungen der vergangenen Monate trotz Abstandsregeln und Maskenpflicht nicht zu vermeiden sind. Da sie sich noch in Grenzen halten, werden sie auch zugelassen – zurückzuführen ist das auf die oft bemühte Balance zwischen dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und dem Schutz der österreichischen Wirtschaft.
Intensivkapazitäten
Die Anzahl der Spitals- und insbesondere der Intensivbetten ist mit Sicherheit der wichtigste Indikator für die Corona-Ampel, stellte doch die Regierung klar, dass jeder erkrankten Person in Österreich die bestmögliche Versorgung garantiert wird. Ob die Ampel von Grün auf Gelb oder von Orange auf Rot springt, soll also auch von der Verfügbarkeit der Intensivkapazitäten in einem Bezirk abhängen – was geradezu zynisch anmutet, da es undenkbar ist, dass in Teilen des Landes Erkrankte keine notfallmedizinische Behandlung erhalten, während in anderen Bezirken oder Bundesländern Ressourcen vorhanden wären.
Aber warum wird dann die Zahl der Betten dennoch als Kriterium herangezogen? Wird es im Ernstfall nicht, dieser Punkt wurde nur berücksichtigt, um der Funktion der Ampel als Frühwarnsystem Nachdruck zu verleihen und die Situation in den Landeskrankenhäusern genau zu beobachten – allenfalls auch als Sensibilisierungsmethode für die Bevölkerung, sitzt doch die Angst vor überlasteten Krankenhäusern angesichts der Ereignisse aus Norditalien, als Patienten ohne angemessene Behandlung starben, immer noch tief.
Obwohl also der Hauptzweck der Corona-Ampel darin besteht, das Sprengen der Spitalskapazitäten zu verhindern, ohne die Maßnahmen zur Kontaktreduktion massiv zu verschärfen, wird dieser Faktor nicht wesentlich zur Lagebewertung in den Bezirken beitragen.