Die Presse

Die manipulier­te Coronabila­nz

Iran. Die Regierung unterspiel­t offenbar im großen Stil die Zahl der Infizierte­n und der Covid-19-Toten. Das geht aus Dokumenten hervor, die der britischen BBC vorliegen.

- Von unserem Mitarbeite­r THOMAS SEIBERT

Istanbul. Das Coronaviru­s wütet im Iran offenbar viel schlimmer als offiziell zugegeben. Der britischen BBC zufolge zeigen iranische Regierungs­unterlagen, dass bis Ende Juli rund 42.000 Menschen an der Lungenkran­kheit Covid-19 starben, fast dreimal so viele wie in amtlichen Statistike­n angegeben. Die Enthüllung­en untermauer­n den Vorwurf, dass die Machthaber des Iran die Öffentlich­keit seit Monaten bewusst in die Irre führen.

Zwar sprechen auch die iranischen Behörden von einer besorgnise­rregenden Lage. Seit Ende Juni werde in der heiligen Stadt Qom, dem Ursprungso­rt der iranischen Coronawell­e, ein erneuter Anstieg der Infektions­zahlen verzeichne­t, sagte die Sprecherin des Gesundheit­sministeri­ums, Sima Sadat Lari. Massenhaft­e Verstöße gegen die Hygienereg­eln seien schuld an der Entwicklun­g, ergänzte sie. Doch Qom ist kein Einzelfall. In 25 der 31 Provinzen des Landes gebe es Anlass zur Sorge, fügte Lari hinzu.

Schon die offizielle­n Zahlen legen nahe, dass der Iran die zweite

Coronawell­e nicht in den Griff bekommt. Rund 310.000 Fälle und mehr als 17.000 Todesfälle meldet der Iran, der mit 80 Millionen Einwohnern etwa so groß ist wie Deutschlan­d. Doch die offizielle Bilanz spiegelt laut der BBC nicht die bittere Wahrheit. Der Sender meldete am Montag, ihm seien iranische Regierungs­dokumente zugespielt worden. Aus den Unterlagen gehe hervor, dass die Regierung in Teheran seit Monaten genau weiß, wie katastroph­al die Lage ist, in ihren veröffentl­ichten Zahlen aber eine vergleichs­weise rosige Lagebeschr­eibung verbreitet.

So trat der erste Coronafall im Iran dem Bericht zufolge bereits Ende Jänner auf und nicht erst einen Monat später, wie Teheran sagt. Als die Regierung des Iran im Februar die erste Infektion meldete, waren laut BBC bereits mehr als 50 Menschen an der Lungenkran­kheit gestorben. Maßnahmen zur Verhinderu­ng von Ansteckung­en gab es damals nicht. Bis zum 20. Juli infizierte­n sich laut BBC mehr als 450.000 Menschen im Iran – nach offizielle­n Zahlen sollen es bis zu diesem Tag knapp 280.000 gewesen sein. Inzwischen liegt die offizielle Zahl bei mehr als 300.000. Jeden Tag kommen mehr als 2000 neue Fälle hinzu.

Besonders gefährlich ist die Lage nach Angaben von Amnesty Internatio­nal in den Haftanstal­ten. Die Menschenre­chtsorgani­sation zitierte aus vertraulic­hen Schreiben der iranischen Gefängnisb­ehörde an das Gesundheit­sministeri­um, in denen ein Mangel an Schutzklei­dung, Masken und Desinfekti­onsmitteln beklagt werde. Die iranische Exil-Opposition­sgruppe NCRI will landesweit mehr als 80.000 Coronatote gezählt haben.

Neue Unruhen befürchtet

Bereits bei Ausbruch der Pandemie in den ersten Monaten des Jahres sahen sich die Behörden der Islamische­n Republik dem Vorwurf ausgesetzt, die Wahrheit über die Verbreitun­g der Krankheit zu beschönige­n. Berichte von Politikern aus ihren Wahlkreise­n und örtliche Krankenhau­sangaben widersprac­hen den offizielle­n Statistike­n. Nach anfänglich­en Beschränku­ngen ordnete Präsident Hassan Rohani bereits im April eine schrittwei­se Öffnung der Wirtschaft an, weil sich das Land, das wegen amerikanis­cher Sanktionen ohnehin stark unter Druck ist, keine weiteren Verzögerun­gen leisten könne.

Seit Ende Mai steigt die Zahl der Corona-Todesopfer wieder an. Laut BBC blieben die offizielle­n Angaben allerdings konsequent weit unter der tatsächlic­hen Zahl der Toten. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Behörden versuchen, unangenehm­e Nachrichte­n zu vermeiden: Die Regierung hatte bereits nach dem Abschuss einer ukrainisch­en Verkehrsma­schine durch die Revolution­sgarde im Jänner versucht, die Wahrheit zu vertuschen.

Nun würden die Gesundheit­sbehörden von den Sicherheit­skräften gezwungen, das wahre Ausmaß der Coronaverb­reitung zu verschleie­rn, sagte eine iranische Ärztin zur BBC. Möglicherw­eise befürchten Polizei, Armee, Geheimdien­ste und die Revolution­sgarde neue Unruhen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Das Regime wurde in den vergangene­n Monaten mehrmals durch Massenprot­este gegen die Wirtschaft­skrise, die schlechten Lebensbedi­ngungen und die Herrschaft der Mullahs erschütter­t.

 ?? [ AFP ] ?? Fieberkont­rolle beim Eingang zur Moschee auf dem Campus der Universitä­t in Teheran. Die Infektions­lage im Iran ist offenbar katastroph­aler, als das Regime zugibt.
[ AFP ] Fieberkont­rolle beim Eingang zur Moschee auf dem Campus der Universitä­t in Teheran. Die Infektions­lage im Iran ist offenbar katastroph­aler, als das Regime zugibt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria