Die manipulierte Coronabilanz
Iran. Die Regierung unterspielt offenbar im großen Stil die Zahl der Infizierten und der Covid-19-Toten. Das geht aus Dokumenten hervor, die der britischen BBC vorliegen.
Istanbul. Das Coronavirus wütet im Iran offenbar viel schlimmer als offiziell zugegeben. Der britischen BBC zufolge zeigen iranische Regierungsunterlagen, dass bis Ende Juli rund 42.000 Menschen an der Lungenkrankheit Covid-19 starben, fast dreimal so viele wie in amtlichen Statistiken angegeben. Die Enthüllungen untermauern den Vorwurf, dass die Machthaber des Iran die Öffentlichkeit seit Monaten bewusst in die Irre führen.
Zwar sprechen auch die iranischen Behörden von einer besorgniserregenden Lage. Seit Ende Juni werde in der heiligen Stadt Qom, dem Ursprungsort der iranischen Coronawelle, ein erneuter Anstieg der Infektionszahlen verzeichnet, sagte die Sprecherin des Gesundheitsministeriums, Sima Sadat Lari. Massenhafte Verstöße gegen die Hygieneregeln seien schuld an der Entwicklung, ergänzte sie. Doch Qom ist kein Einzelfall. In 25 der 31 Provinzen des Landes gebe es Anlass zur Sorge, fügte Lari hinzu.
Schon die offiziellen Zahlen legen nahe, dass der Iran die zweite
Coronawelle nicht in den Griff bekommt. Rund 310.000 Fälle und mehr als 17.000 Todesfälle meldet der Iran, der mit 80 Millionen Einwohnern etwa so groß ist wie Deutschland. Doch die offizielle Bilanz spiegelt laut der BBC nicht die bittere Wahrheit. Der Sender meldete am Montag, ihm seien iranische Regierungsdokumente zugespielt worden. Aus den Unterlagen gehe hervor, dass die Regierung in Teheran seit Monaten genau weiß, wie katastrophal die Lage ist, in ihren veröffentlichten Zahlen aber eine vergleichsweise rosige Lagebeschreibung verbreitet.
So trat der erste Coronafall im Iran dem Bericht zufolge bereits Ende Jänner auf und nicht erst einen Monat später, wie Teheran sagt. Als die Regierung des Iran im Februar die erste Infektion meldete, waren laut BBC bereits mehr als 50 Menschen an der Lungenkrankheit gestorben. Maßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungen gab es damals nicht. Bis zum 20. Juli infizierten sich laut BBC mehr als 450.000 Menschen im Iran – nach offiziellen Zahlen sollen es bis zu diesem Tag knapp 280.000 gewesen sein. Inzwischen liegt die offizielle Zahl bei mehr als 300.000. Jeden Tag kommen mehr als 2000 neue Fälle hinzu.
Besonders gefährlich ist die Lage nach Angaben von Amnesty International in den Haftanstalten. Die Menschenrechtsorganisation zitierte aus vertraulichen Schreiben der iranischen Gefängnisbehörde an das Gesundheitsministerium, in denen ein Mangel an Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmitteln beklagt werde. Die iranische Exil-Oppositionsgruppe NCRI will landesweit mehr als 80.000 Coronatote gezählt haben.
Neue Unruhen befürchtet
Bereits bei Ausbruch der Pandemie in den ersten Monaten des Jahres sahen sich die Behörden der Islamischen Republik dem Vorwurf ausgesetzt, die Wahrheit über die Verbreitung der Krankheit zu beschönigen. Berichte von Politikern aus ihren Wahlkreisen und örtliche Krankenhausangaben widersprachen den offiziellen Statistiken. Nach anfänglichen Beschränkungen ordnete Präsident Hassan Rohani bereits im April eine schrittweise Öffnung der Wirtschaft an, weil sich das Land, das wegen amerikanischer Sanktionen ohnehin stark unter Druck ist, keine weiteren Verzögerungen leisten könne.
Seit Ende Mai steigt die Zahl der Corona-Todesopfer wieder an. Laut BBC blieben die offiziellen Angaben allerdings konsequent weit unter der tatsächlichen Zahl der Toten. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Behörden versuchen, unangenehme Nachrichten zu vermeiden: Die Regierung hatte bereits nach dem Abschuss einer ukrainischen Verkehrsmaschine durch die Revolutionsgarde im Jänner versucht, die Wahrheit zu vertuschen.
Nun würden die Gesundheitsbehörden von den Sicherheitskräften gezwungen, das wahre Ausmaß der Coronaverbreitung zu verschleiern, sagte eine iranische Ärztin zur BBC. Möglicherweise befürchten Polizei, Armee, Geheimdienste und die Revolutionsgarde neue Unruhen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Das Regime wurde in den vergangenen Monaten mehrmals durch Massenproteste gegen die Wirtschaftskrise, die schlechten Lebensbedingungen und die Herrschaft der Mullahs erschüttert.