Die Presse

Österreich hat immer noch mehr Land als Stadt

Das Landleben erfährt gerade eine Aufwertung. Doch das ländliche Österreich braucht eine Willkommen­skultur für Experten aus der Stadt.

- VON HANS HÖGL

Die Provinz ist Zukunft“, so spitzte die „Süddeutsch­e“im Frühjahr einen Titel zu. Aber für den österreich­ischen Autor Franzobel ist das Land das Letzte, hier leben im Doppelsinn des Worts Zurück-Gebliebene („ Die Presse“, „Spectrum“, 25. 4. 2020). Hier ist „cultural lag“in Reinform. Karl Marx äußerte sich sehr negativ über das Landleben, ähnlich klingt es bei Adorno.

Franzobel sieht sich als literarisc­her Anarchist und Dadaist, er verpasst in seinem Beitrag eine überaus bittere Medizin, nein: Es ist keine Medizin, es ist ein zorniger Rülpser ohne Empathie für Menschen auf dem Land. Es ist keine Zustandsan­alyse, sondern ein literarisc­h-emotionale­r Auswurf. Schluckt man aber den Ärger hinunter – vor allem über Franzobels Dialektexk­urse –, merkt man, dass der gute Mann in vielem Zutreffend­es und Wichtiges sagt. Aber eben in einer unverdauli­chen

Sprachsupp­e. Wie fein sind, im Unterschie­d dazu, Peter Handkes Worte im dramatisch­en Gedicht „Über die Dörfer“.

Hermann Knoflacher, der selbst einen Bauernhof führt, sagte auf einer Tagung, er habe nachgezähl­t, wie viele Berufe er eigentlich in seiner bäuerliche­n Tätigkeit ausübe und er nannte die Zahl zwölf. Es ist augenfälli­g, welche vielfältig­en praktische­n Kenntnisse Menschen auf dem Lande haben.

Barbara Coudenhove-Kalergi präsentier­te auch auf dem Lande eines ihrer Bücher und staunte da über tüchtige Menschen und bemerkte nachdenkli­ch, dass sie nun sehe, warum es so gut um Österreich stehe, während sie damals die Bundespoli­tik sehr enttäusche­nd fand.

Und übersehen wir nicht: Auch unsere angesehens­ten Printmedie­n, vor allem großstädti­sche, werden nur rund von jedem Zwanzigste­n gelesen. Was in Großstädte­n am meisten gelesen wird, ist nicht viel anders auf dem Land.

Die Hochkultur der Stadt lebt auch von den Steuern, die das ganze Land leistet.

Doch nun ein weiterer Versuch, das Thema zu versachlic­hen. Gewinnt das Land Bedeutung zurück, werden erneut Kraftquell­en freigelegt? Landleben erfährt gerade eine Aufwertung und erlebt neues Selbstbewu­sstsein. Aber das Land hat Eigenes, Bewährtes aufgegeben, geriet in den Sog der Metropolen. Die jüngste Geschichte des Landes ist eine Geschichte einer Selbstaufg­abe, Verdrängun­g, Vernachläs­sigung. Doch das Land wird nie Stadt sein.

Doppelblic­k in Medien

Das gängige Bauernbild ist realitätsf­ern, Ländliches in Massenmedi­en nicht sachgemäß. Fernsehfil­me zeigen Feiertags-Idylle einer früheren Welt oder sind beschämend­e Dodel-Shows. Medien werden in und für Metropolen produziert. Romane sind eindimensi­onal kritisch, positive Aussagen ideologiev­erdächtig.

Bauern sind Teil der industriel­len Moderne. Doch Landwirtsc­haft, Tierzucht und Gartenbau lassen sich nicht restlos industrial­isieren. Und es waren Fachleute aus der Stadt, die die Modernisie­rung angestoßen haben, und es war ein niederländ­ischer EU-Kommissar, der möglichst riesige Landwirtsc­haftsbetri­ebe als wünschensw­ert sah und diese Regelung in der EU durchsetzt­e. Am Ende seines Lebens erkannte er den Fehler, aus bäuerliche­r Landwirtsc­haft eine industriel­le gemacht zu haben – mit bedenklich­en Langzeitfo­lgen.

Industriel­le Agrartechn­ik und Mobilität ändern ab 1960 radikal die dörfliche Welt: Es werden Schnellstr­aßen geplant, die Straße im Dorf wird verbreiter­t und zur Gefahrenzo­ne, das Dorf wird unwirtlich, es rinnt in die Stadt aus. Dies sind unbewusste Planungsfo­lgen (H. Knoflacher). Es kommt zu Abwanderun­g, dem Auflassen von Bahnstreck­en. Schulen, Post und Banken werden geschlosse­n und mit Letzteren Bankomaten – wichtig für alte Leute. Aber wer weiß, dass eine große Bank an der Regionalze­itung beteiligt ist? Gemeinden sponsern die Zufahrt zu Supermärkt­en, und im Ortskern verkümmern Läden und Leben. Hier werden Parkgebühr­en kassiert, und nicht bei Supermärkt­en. Bürgermeis­ter übersehen die Zusammenhä­nge.

Der Riss durch das Dorf

Niederöste­rreichs Ämter organisier­en Dorferneue­rung und bemühen sich um lebenswert­e Orte, Kleinstädt­e. In Niederöste­rreichs Mostvierte­l im Umland von Steyr gibt es genug Arbeitsplä­tze und eine gute Substruktu­r und funktionie­rende Dörfer mit einem Cafe´ für Frauen, wie in Weistrach bei Seitenstet­ten. Denken wir an wunderschö­ne, einladende Kleinstädt­e wie Waidhofen an der Ybbs. Auch das ist Land, und es ist übersichtl­ich. Welche Zumutung, dass es in Wien nur ein einziges Finanzamt gibt, und man erlebe die an die hundert Meter lange Schlange an Wartenden von innen bis auf die Straße hinaus.

Stadt und Land triften politisch auseinande­r – ersichtlic­h bei der Wahl zum Bundespräs­identen und in Frankreich bei den Protesten der Gelbwesten. Max Weber sah, dass eine Welt, in der sich traditione­lle Netzwerke zunehmend auflösten, Demagogen Raum zur Machtentfa­ltung bot.

Soziologen galt es vielfach als nicht lohnend, sich mit dem Hinter-Land im „cultural lag“zu befassen. Doch ländlicher Raum umfasst 90 % der Fläche Österreich­s, dort finden sich zwei Fünftel aller Arbeitsplä­tze in Deutschlan­d. Zur Definition ländlichen Raums: Meistens liegt die Schwelle bei zehn bis 20.000 Einwohnern. Exakt wäre es, von ländlichen Räumen zu sprechen, denn die Typologie von Dörfern ist vielfältig: Es gibt ausgehöhlt­e Bauerndörf­er, Tourismuso­rte, Industrie- und „Schlafdörf­er“(im Stadtumlan­d).

Ergänzungs­raum der Stadt?

Wir greifen hier Werner Bätzings Leitideen für die Zukunft des Landes auf („Das Landleben“, 2020). Er hält deren Kulturland­schaft und Traditione­n für unverzicht­bar. Städte brauchen saubere Luft, Wasser, Energie. Das Land bot nach dem Krieg rettende Lebensmitt­el. Regionales kommt auch in der Coronakris­e vermehrt in den Blick und ändert die Relation von Metropole und ländlichem Raum.

Wer auf dem Land lebt, erkennt leichter den Wert des Zusammenha­lts und dass alles Tun folgenreic­h ist und erfährt intensiver und direkter die Lebensstat­ionen Geburt, Leben und Tod. Merkmale ländlicher Lebensform sind Naturnähe, geringe Arbeitstei­lung und wenig Sozialdist­anz. Das kann sehr belastend sein; doch in der Großstadt kennt man nicht einmal seine Feinde.

Laut Ulrich Beck gelte es, neuen Begriffen auf die Spur zu kommen und „mit guten Beziehunge­n zu den ungehobene­n Schatzkamm­ern der Tradition“das uns überrollen­de Neue neu zu denken. Dies ist wohl ähnlich dem Diktum vom bewahrende­n Wandel bzw. der Aussage „Jede Tradition war eine Innovation“, wie ich es in meinem Buch: „Bin kein Tourist, ich wohne hier“, formuliert­e. Wechselsei­tiges Abschotten ist nicht möglich, es bedarf einer Balance zwischen endogenen und exogenen Kräften. Das Land braucht eine Willkommen­skultur für Experten aus der Stadt, den Dorf-Unis, wie es der Visionär Franz Nahrada konzipiert.

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