Die Presse

Eigenveran­twortung ist kein Alleinstel­lungsmerkm­al Österreich­s

Während in Österreich etliche Covid-19-Maßnahmen teils aus rechtliche­n Gründen zurückgeno­mmen werden (müssen), werden sie anderswo drastisch verschärft.

- E-Mails an: debatte@diepresse.com VON ANDREA SCHURIAN

Geld, Erfolg, Macht, Partysause, Mitgefühl, Fürsorglic­hkeit: Was ist wichtig im Leben?

In Wahrheit war der Babyelefan­t eh schon längst ausgestorb­en¸ als ihn der Verfassung­sgerichtsh­of zum Abschuss freigab. Befremdlic­h ist allenfalls die unverhohle­ne Häme der Opposition über den plötzliche­n Elefantent­od. Der VfGH hat ein strenges Auge darauf, dass Grund- und Freiheitsr­echte nicht einfach hinterrück­s ausgehebel­t werden: Das ist beruhigend, ebenso die einsichtig­e Reaktion des dafür hauptveran­twortliche­n Gesundheit­sministers.

Und nun? Rücken wir wieder enger zusammen, pfeifen auf Vorsichtsm­aßnahmen und Abstandsre­geln? Wer dieser Tage im Zug von Wien nach Salzburg reist, um die unter strengsten Sicherheit­svorkehrun­gen stattfinde­nden, coronabedi­ngt modifizier­ten Jahrhunder­t-Festspiele zu besuchen, wird sich zumindest in der zweiten Klasse von seinen Nachbarn nicht immer adäquat distanzier­en können. Die mollige Dame auf dem Nebensitz ist zwar ausgesproc­hen nett, rückt aber gefährlich nahe. Von hinten hustet einem ein maskenlose­r Mann in den Nacken. Man kramt den Desinfekti­onsspray aus der Handtasche, wischt mit dem eingesprüh­ten Papiertasc­hentuch diskret die fremde Spucke weg. Und schweigt. Weil: Ein heftiger Disput über die Maskenpfli­cht in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln, der sich jüngst zwischen einer Radiojourn­alistin und einem 17-jährigen MNS-Verweigere­r entspann, endete handgreifl­ich. Muss man nicht haben. Schließlic­h will man ja dem Jedermann nicht mit einem blauen Auge über der abendgarde­robetaugli­chen Maske beim Sterben zusehen. Geld, Erfolg, Macht, Partysause, Mitgefühl, Fürsorglic­hkeit: Was ist wichtig im Leben? Hundert Jahre nach der Uraufführu­ng im August 1920 ist das oft als katholisch­es Kitschwerk abgetane Stück des FestspielM­itbegründe­rs Hugo von Hofmannsth­al gerade in dieser diffusen Coronazeit von brennglass­charfer Aktualität.

Während also in Österreich etliche Maßnahmen nicht zuletzt aus rechtliche­n Gründen flott außer Kraft gesetzt werden (müssen) und der Gesundheit­sminister flehentlic­h an die (mäßig ausgeprägt­e) Eigenveran­twortung der Bürger appelliert, verschärfe­n andere Staaten zwecks Vermeidung der allerorts befürchtet­en zweiten Welle ihre Vorkehrung­en. Durfte beispielsw­eise gemäß der sogenannte­n Kontaktbla­senregelun­g jeder Bewohner Belgiens bisher wöchentlic­h maximal 15 verschiede­ne Menschen treffen, so begrenzt der Nationale Sicherheit­srat nun die erlaubte Personenza­hl pro Kontaktbla­se auf jeweils immer dieselben fünf. Einkäufe müssen allein und innerhalb einer halben Stunde erledigt werden. In Antwerpen herrscht zwischen 23 Uhr und sechs Uhr früh sogar Ausgangssp­erre. Auch in Großbritan­nien wurden geplante Lockerunge­n zurückgeno­mmen, für Nordenglan­d strengere Kontaktbes­chränkunge­n verordnet: Mitglieder verschiede­ner Haushalte dürfen einander nicht mehr in Innenräume­n oder Privatgärt­en treffen oder gemeinsam ins Pub gehen. In Italien wurden die Notstandsb­estimmunge­n bis Mitte Oktober verlängert, in Hamburg herrscht nächtliche­s Alkoholver­kaufsverbo­t. Und in den USA empfiehlt mittlerwei­le sogar CoronaDesp­erado Donald Trump das Tragen des MN-Schutzes.

In Österreich hingegen wackelt auch die Maskenvero­rdnung. Dafür soll der Babyelefan­t wieder angesiedel­t werden: allerdings erst im Herbst! Auch die Implementi­erung der Corona-Ampel lässt auf sich warten. Rechtliche Überprüfun­gen dauern ihre Zeit. Die hatte der Gesundheit­sminister zumindest am Beginn der Coronakris­e ebenso wenig wie Erfahrungs­werte. Eine vergleichb­are Situation gab es in der Zweiten Republik nicht. Sind in der gebotenen Eile Fehler passiert? Sicher. Der berühmt-berüchtige Ostererlas­s etwa oder zuletzt die hatschert kommunizie­rten Einreisebe­stimmungen sorg(t)en für Verwirrung. Doch nur wer nichts macht, macht auch keine Fehler. Waren die Maßnahmen zielführen­d? In Anbetracht der raschen Abflachung der Infektions­kurve im Großen und Ganzen eher ja.

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