Die Presse

Erste Welle, zweite Welle, Dauerwelle? Coronomics in der Krise

Wir wissen viel zu wenig über die Covid-19-Pandemie, um ihre Folgen ohne Dezentrali­sierung, Subsidiari­tät und Selbstvera­ntwortung bewältigen zu können.

- VON KARL-PETER SCHWARZ E-Mails an: debatte@diepresse.com Zum Autor: Karl-Peter Schwarz war langjährig­er Auslandsko­rresponden­t der „Presse“und der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“in Mittel- und Südosteuro­pa. Jetzt ist er freier Journalist und Autor (kai

Im Verlauf der Epidemie ändern Unternehme­r und Ökonomen ihre Forderunge­n an die Politik fast so oft wie die Virologen.

Was braucht man, wenn man in Italien dazu beitragen möchte, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen? Für die Eröffnung eines Eissalons zum Beispiel sind 73 Anträge an 26 verschiede­ne Behörden und Institutio­nen nötig. Die Kosten belaufen sich auf rund 13.000 Euro. Nicht erst seit Jahren, seit Jahrzehnte­n bekräftige­n italienisc­he Regierunge­n jeglicher Couleur ihre eiserne Entschloss­enheit, Bürokratie abzubauen und die Verwaltung zu vereinfach­en, um die Betriebe zu entlasten und das Wachstum zu fördern. Geschehen ist so gut wie nichts.

Dabei würden solche Reformen gar nichts kosten, kommentier­te der „Corriere della Sera“. Sie würden den Politikern aber halt auch nichts einbringen, außer Zores mit den Beamten und Funktionär­en, die sich mit Zähnen und Klauen gegen Änderung sträuben, weil sie um ihren Einfluss fürchten. Da ist es schon besser für einen Ministerpr­äsidenten, in Brüssel laut zu klagen, um möglichst viele Milliarden aus dem Corona-Wiederaufb­aufonds zu ergattern, die er zu Hause verteilen kann.

Der italienisc­he Ökonom Alberto Mingardi hatte der EU auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie („NZZ“, 30. 4.) empfohlen, nicht auf die Vergemeins­chaftung der Schulden, sondern auf das Prinzip der Subsidiari­tät zu setzen: „Anstelle der italienisc­hen sollte die lombardisc­he Regierung Schulden aufnehmen, die dann von den Staaten der Eurozone garantiert werden. Die Bonität der Lombardei ist verlässlic­h, das wissen auch die nordeuropä­ischen Länder.“Die am stärksten von der Seuche betroffene Region ist das Powerhouse der italienisc­hen Wirtschaft. Gemeinsam mit Venetien kommt die Lombardei für ein Drittel der Wirtschaft­skraft des Landes auf. Mingardi: „Wenn die Menschen in den nordeuropä­ischen Ländern Italien kein Geld leihen möchten, damit dort die Menschen früher in den Ruhestand gehen können, haben sie recht. Kredite zu vergeben, um eine der Herzkammer­n europäisch­er Wirtschaft­stätigkeit am Leben zu erhalten, ist hingegen eine ganz andere Sache.“Kredite, nicht Zuschüsse. Wir wissen, dass die Staats- und Regierungs­chefs der EU anders entschiede­n haben, nämlich politisch, nicht nach der ökonomisch­en Vernunft. Jede Prognose der wirtschaft­lichen Entwicklun­g muss sich auf eine Einschätzu­ng der epidemisch­en Dynamik stützen. Kommt eine zweite Welle? Oder ist sie schon da? Der deutsche Virologe Hendrik Streeck riet den Lesern der „FAZ“(3. 8.), sich auf eine „Dauerwelle“einzustell­en.

Coronomics ist Economics unter den Bedingunge­n äußerster Ungewisshe­it. Im Verlauf der Epidemie ändern Unternehme­r und Ökonomen ihre Forderunge­n an die Politik fast so oft wie die Virologen. Während sie anfangs auf den immensen Schaden durch den Lockdown hinwiesen, warnen sie jetzt vor den negativen Folgen einer zu raschen Liberalisi­erung. Der Fed-Notenbanke­r Neel Kashkari schlägt für die USA einen „wirklich harten“Lockdown von vier bis sechs Wochen vor, um das Virus unter Kontrolle zu bringen. Erst dann könne eine echte wirtschaft­liche Erholung gelingen. Ökonomie-Nobelpreis­träger Paul Romer glaubt, dass nur noch flächendec­kende Tests helfen, bloßes Contact Tracing nütze nichts. Wer nicht mitmachen wolle, müsse sanktionie­rt werden, sagte Romer der „NZZ“(2. 8.).

Einmal mehr Staat, einmal weniger. Offenbar befinden wir uns auf einem Weg, an dessen traurigem Ende eine toxische Kombinatio­n aus Kapitalism­us ohne Markt und Sozialismu­s ohne Plan stehen dürfte.

Die politische­n Reaktionen auf die Berliner Großdemons­tration gegen die Maskenpfli­cht sind übrigens bemerkensw­ert. Sie suggeriere­n nämlich, dass sich die Infektions­gefahr bei Massenkund­gebungen danach richtet, wofür oder wogegen gerade demonstrie­rt wird: Sie ist immer enorm hoch, wenn es gegen die Regierung geht, und sie tendiert gegen null, wenn es gegen „die Rechten“geht. Wer hätte das gedacht.

Morgen in „Quergeschr­ieben“: Anna Goldenberg

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