Erste Welle, zweite Welle, Dauerwelle? Coronomics in der Krise
Wir wissen viel zu wenig über die Covid-19-Pandemie, um ihre Folgen ohne Dezentralisierung, Subsidiarität und Selbstverantwortung bewältigen zu können.
Im Verlauf der Epidemie ändern Unternehmer und Ökonomen ihre Forderungen an die Politik fast so oft wie die Virologen.
Was braucht man, wenn man in Italien dazu beitragen möchte, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen? Für die Eröffnung eines Eissalons zum Beispiel sind 73 Anträge an 26 verschiedene Behörden und Institutionen nötig. Die Kosten belaufen sich auf rund 13.000 Euro. Nicht erst seit Jahren, seit Jahrzehnten bekräftigen italienische Regierungen jeglicher Couleur ihre eiserne Entschlossenheit, Bürokratie abzubauen und die Verwaltung zu vereinfachen, um die Betriebe zu entlasten und das Wachstum zu fördern. Geschehen ist so gut wie nichts.
Dabei würden solche Reformen gar nichts kosten, kommentierte der „Corriere della Sera“. Sie würden den Politikern aber halt auch nichts einbringen, außer Zores mit den Beamten und Funktionären, die sich mit Zähnen und Klauen gegen Änderung sträuben, weil sie um ihren Einfluss fürchten. Da ist es schon besser für einen Ministerpräsidenten, in Brüssel laut zu klagen, um möglichst viele Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zu ergattern, die er zu Hause verteilen kann.
Der italienische Ökonom Alberto Mingardi hatte der EU auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie („NZZ“, 30. 4.) empfohlen, nicht auf die Vergemeinschaftung der Schulden, sondern auf das Prinzip der Subsidiarität zu setzen: „Anstelle der italienischen sollte die lombardische Regierung Schulden aufnehmen, die dann von den Staaten der Eurozone garantiert werden. Die Bonität der Lombardei ist verlässlich, das wissen auch die nordeuropäischen Länder.“Die am stärksten von der Seuche betroffene Region ist das Powerhouse der italienischen Wirtschaft. Gemeinsam mit Venetien kommt die Lombardei für ein Drittel der Wirtschaftskraft des Landes auf. Mingardi: „Wenn die Menschen in den nordeuropäischen Ländern Italien kein Geld leihen möchten, damit dort die Menschen früher in den Ruhestand gehen können, haben sie recht. Kredite zu vergeben, um eine der Herzkammern europäischer Wirtschaftstätigkeit am Leben zu erhalten, ist hingegen eine ganz andere Sache.“Kredite, nicht Zuschüsse. Wir wissen, dass die Staats- und Regierungschefs der EU anders entschieden haben, nämlich politisch, nicht nach der ökonomischen Vernunft. Jede Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung muss sich auf eine Einschätzung der epidemischen Dynamik stützen. Kommt eine zweite Welle? Oder ist sie schon da? Der deutsche Virologe Hendrik Streeck riet den Lesern der „FAZ“(3. 8.), sich auf eine „Dauerwelle“einzustellen.
Coronomics ist Economics unter den Bedingungen äußerster Ungewissheit. Im Verlauf der Epidemie ändern Unternehmer und Ökonomen ihre Forderungen an die Politik fast so oft wie die Virologen. Während sie anfangs auf den immensen Schaden durch den Lockdown hinwiesen, warnen sie jetzt vor den negativen Folgen einer zu raschen Liberalisierung. Der Fed-Notenbanker Neel Kashkari schlägt für die USA einen „wirklich harten“Lockdown von vier bis sechs Wochen vor, um das Virus unter Kontrolle zu bringen. Erst dann könne eine echte wirtschaftliche Erholung gelingen. Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Romer glaubt, dass nur noch flächendeckende Tests helfen, bloßes Contact Tracing nütze nichts. Wer nicht mitmachen wolle, müsse sanktioniert werden, sagte Romer der „NZZ“(2. 8.).
Einmal mehr Staat, einmal weniger. Offenbar befinden wir uns auf einem Weg, an dessen traurigem Ende eine toxische Kombination aus Kapitalismus ohne Markt und Sozialismus ohne Plan stehen dürfte.
Die politischen Reaktionen auf die Berliner Großdemonstration gegen die Maskenpflicht sind übrigens bemerkenswert. Sie suggerieren nämlich, dass sich die Infektionsgefahr bei Massenkundgebungen danach richtet, wofür oder wogegen gerade demonstriert wird: Sie ist immer enorm hoch, wenn es gegen die Regierung geht, und sie tendiert gegen null, wenn es gegen „die Rechten“geht. Wer hätte das gedacht.
Morgen in „Quergeschrieben“: Anna Goldenberg