Darum zieht es uns in den Süden
Ferienkultur. Im Sommer schwitzen wir an südlichen Stränden, im Winter frieren wir in eisigen Höhen. Unsere Ahnen waren da schlauer. Wie kam es zum Wandel?
Baden am Strand war nicht immer in Mode: Wie sich die Ferienkultur entwickelte.
Wie schauen Menschen drein, die am sommerlichen Strand liegen? Selten so, als würden sie gerade die schönsten Momente des Jahres verleben. Sie braten vor sich hin, in einer Panade aus Öl, Schweiß und glühendem Sand. Träge, fast betäubt lassen sie die Stunden verrinnen, Tag für Tag. Wenn die Sonne am höchsten steht, ist die Laune am Tiefpunkt.
In der schwülen Luft liegen Missmut, Überdruss, Langeweile. Vor der „Seuche, die wütet am Mittag“, warnte schon ein Psalm und meinte damit kein Virus. Ein solches intensiviert dafür heuer, wo viele Flugreisen ausfallen, die rituellen Autokarawanen in Richtung Adria. Drei Stunden Stau vor dem Karawankentunnel, vier an der kroatischen Grenze: Warum tun wir uns das an? Wieso setzen wir uns im Sommer der Hitze des Südens aus und im Winter der Eiseskälte des Hochgebirges, statt wie früher auf Sommerfrische in die Berge zu reisen und, wenn es zu Hause ungemütlich wird, Zuflucht an der wohltemperierten Riviera zu suchen? Wann kippte unser Verhalten ins Irrationale?
Einst galt der Strand als Grenzstreifen zum Ungeheuren, als Ort des Schreckens und der Gefahr. Dantes dritter Kreis der Hölle war von Sand gesäumt. Im Meer konnte man ertrinken, Schiffe scheiterten an Klippen. Hinter tosenden Wellen lauerten Piraten und Seeungeheuer – Scilla, Charybdis, Leviathan oder der Wal des Jonas. Bis englische Ärzte um 1800 konstatierten: Die Elite ihres Empire wirkte schwach, ja verweichlicht im Vergleich zum einfachen Volk, das körperlich arbeitete. Also rieten sie dem Adel zum abhärtenden Bad im kalten Meer. Dann meinten sie, salzhaltiges Wasser heile Krankheiten, und verordneten Schwimmen in der Nordsee gegen Rachitis, Gicht, Unfruchtbarkeit und Hysterie. Nur kurz hielten es die Patienten in den Fluten aus, fröstelnd eilten sie zurück ins Hotel. Doch die Mode verbreitete sich, nach Norddeutschland und Frankreich, aber immer am Atlantik.
Dann verkündeten die Mediziner: Auch die Luft an der See wirke Wunder, vor allem gegen Tuberkulose. Also platzierten sich die Menschen am Ufer, eroberten den Strand als Lebensraum. Das war auch im Winter möglich, und ihn verbrachte man lieber an südlichen Gestaden. Rasch bevölkerte sich die Riviera mit russischen Großfürsten und deutschen Fabrikantenwitwen. Nach dem Ersten Weltkrieg ließen es sich Amerikaner an der Coteˆ d’Azur gut gehen, ein starker Dollar half dabei. 1922 kamen Gerald und Sara Murphy nach Antibes, in einem „hot, hot summer“, der toten Jahreszeit mit allseits geschlossenen Fensterläden. Das Ehepaar, reiche Rentiers mit viel Sinn für Kunst und Lebensart, war begeistert – und überredete den Besitzer des Luxushotels Eden Roc, ein paar Zimmer offen zu halten. Die Sommersaison am Mittelmeer war geboren.
Zärtlich sei die Nacht, braun die Haut
Einen Sommer später rechten die Murphys mit Cole Porter an der Plage de la Garoupe das Seegras beiseite und erfanden das Sonnenbad: süßes Nichtstun, halb nackt im Sand. Abends luden sie zu Champagner und Charleston auf die Terrasse ihrer frisch gekauften Villa. Eine illustre Fauna von Künstlern tanzte dort im Mondenschein: Picasso, Hemingway, Strawinsky, Gertrude Stein, der Stummfilmstar Rudolfo Valentino – und F. Scott Fitzgerald, der die großzügigen Gastgeber als Dick und Nicole Diver im Roman
„Zärtlich ist die Nacht“unsterblich machte. „Follow the famous“lautete von nun an die Devise. Erika und Klaus Mann stellten wenig später in ihrem Riviera-Reiseführer fest: „Die Saison verschiebt sich nach dem Sommer zu“, manche Orte „sind während des Winters fast still“. Noch gab es viel zu entdecken, wie den „reizenden Flecken“SaintTropez, wo man „billig lebt“und in kleinen Restaurants am Quai „anständig und für wenig Geld“isst. Was für Zeiten! Allerdings: „Im Sommer soll der Wassermangel sehr peinlich sein.“Und noch etwas trübte die Reisefreude: Die Sonne verbrannte die Haut.
Na und, fragte sich Coco Chanel. Die Modeschöpferin kreierte nicht nur das kleine Schwarze und das Parfum „Nr. 5“, sondern auch das Begehren nach Bräune. Als sie 1923 die Jacht ihres Liebhabers bestieg, vergaß sie den Sonnenschirm und kam mit gegerbter Haut zurück. Sie kontrastierte ihren Teint mit weißen Kleidern, zwang ihre Models zur Nachahmung und lancierte so einen neuen Trend. Wieder sekundierten Ärzte: Auch Sonnenlicht sei gesund (von Hautkrebs wusste man damals wenig). Die soziologische Basis war längst gelegt: Mit nobler Blässe hob man sich einst von den Bauern ab.
Die aber wurden rarer. Die meisten Armen schufteten jetzt in Fabriken und verbrachten auch ihre Freizeit drinnen, geschützt vor dem Smog und Ruß der Industriestädte. So erblasste auch der Proletarier. Nun konnte gelten: Je mehr Geld, desto mehr auf Reisen, desto brauner. Die Mode geriet zum Massenwahn. Das Wirtschaftswunder tat sein Übriges: bezahlter Urlaub, Autostrada del Sole, Flüge nach Spanien und Griechenland. Noch im Jahr 2000 war für die Hälfte der Briten die Bräunung der Hauptgrund für den Urlaub.
Das ändert sich. Aber immer noch zieht es uns im Sommer in den Süden. Aus dumpfer Gewohnheit? Es gibt einen handfesten Grund: das Wetter. Denn anders als für die reichen Müßiggänger von früher ist unsere Urlaubszeit begrenzt. Die kostbaren zwei Wochen darf kein Regen vermiesen. Aber ist da nicht noch mehr? Warme Abende, lange Nächte, nackte Haut, eine erotisch aufgeladene Atmosphäre: Der Süden bietet eine stärkere Gegenwelt zum Alltag als der See im Salzkammergut oder das Bergdorf, für die Ministerin Köstinger wegen Corona so heftig wirbt. Die Sehnsucht nach Kulissen für ein anderes Leben lassen wir uns nicht nehmen. Im Schweiße unseres Angesichts.