Die Presse

Darum zieht es uns in den Süden

Ferienkult­ur. Im Sommer schwitzen wir an südlichen Stränden, im Winter frieren wir in eisigen Höhen. Unsere Ahnen waren da schlauer. Wie kam es zum Wandel?

- VON KARL GAULHOFER

Baden am Strand war nicht immer in Mode: Wie sich die Ferienkult­ur entwickelt­e.

Wie schauen Menschen drein, die am sommerlich­en Strand liegen? Selten so, als würden sie gerade die schönsten Momente des Jahres verleben. Sie braten vor sich hin, in einer Panade aus Öl, Schweiß und glühendem Sand. Träge, fast betäubt lassen sie die Stunden verrinnen, Tag für Tag. Wenn die Sonne am höchsten steht, ist die Laune am Tiefpunkt.

In der schwülen Luft liegen Missmut, Überdruss, Langeweile. Vor der „Seuche, die wütet am Mittag“, warnte schon ein Psalm und meinte damit kein Virus. Ein solches intensivie­rt dafür heuer, wo viele Flugreisen ausfallen, die rituellen Autokarawa­nen in Richtung Adria. Drei Stunden Stau vor dem Karawanken­tunnel, vier an der kroatische­n Grenze: Warum tun wir uns das an? Wieso setzen wir uns im Sommer der Hitze des Südens aus und im Winter der Eiseskälte des Hochgebirg­es, statt wie früher auf Sommerfris­che in die Berge zu reisen und, wenn es zu Hause ungemütlic­h wird, Zuflucht an der wohltemper­ierten Riviera zu suchen? Wann kippte unser Verhalten ins Irrational­e?

Einst galt der Strand als Grenzstrei­fen zum Ungeheuren, als Ort des Schreckens und der Gefahr. Dantes dritter Kreis der Hölle war von Sand gesäumt. Im Meer konnte man ertrinken, Schiffe scheiterte­n an Klippen. Hinter tosenden Wellen lauerten Piraten und Seeungeheu­er – Scilla, Charybdis, Leviathan oder der Wal des Jonas. Bis englische Ärzte um 1800 konstatier­ten: Die Elite ihres Empire wirkte schwach, ja verweichli­cht im Vergleich zum einfachen Volk, das körperlich arbeitete. Also rieten sie dem Adel zum abhärtende­n Bad im kalten Meer. Dann meinten sie, salzhaltig­es Wasser heile Krankheite­n, und verordnete­n Schwimmen in der Nordsee gegen Rachitis, Gicht, Unfruchtba­rkeit und Hysterie. Nur kurz hielten es die Patienten in den Fluten aus, fröstelnd eilten sie zurück ins Hotel. Doch die Mode verbreitet­e sich, nach Norddeutsc­hland und Frankreich, aber immer am Atlantik.

Dann verkündete­n die Mediziner: Auch die Luft an der See wirke Wunder, vor allem gegen Tuberkulos­e. Also platzierte­n sich die Menschen am Ufer, eroberten den Strand als Lebensraum. Das war auch im Winter möglich, und ihn verbrachte man lieber an südlichen Gestaden. Rasch bevölkerte sich die Riviera mit russischen Großfürste­n und deutschen Fabrikante­nwitwen. Nach dem Ersten Weltkrieg ließen es sich Amerikaner an der Coteˆ d’Azur gut gehen, ein starker Dollar half dabei. 1922 kamen Gerald und Sara Murphy nach Antibes, in einem „hot, hot summer“, der toten Jahreszeit mit allseits geschlosse­nen Fensterläd­en. Das Ehepaar, reiche Rentiers mit viel Sinn für Kunst und Lebensart, war begeistert – und überredete den Besitzer des Luxushotel­s Eden Roc, ein paar Zimmer offen zu halten. Die Sommersais­on am Mittelmeer war geboren.

Zärtlich sei die Nacht, braun die Haut

Einen Sommer später rechten die Murphys mit Cole Porter an der Plage de la Garoupe das Seegras beiseite und erfanden das Sonnenbad: süßes Nichtstun, halb nackt im Sand. Abends luden sie zu Champagner und Charleston auf die Terrasse ihrer frisch gekauften Villa. Eine illustre Fauna von Künstlern tanzte dort im Mondensche­in: Picasso, Hemingway, Strawinsky, Gertrude Stein, der Stummfilms­tar Rudolfo Valentino – und F. Scott Fitzgerald, der die großzügige­n Gastgeber als Dick und Nicole Diver im Roman

„Zärtlich ist die Nacht“unsterblic­h machte. „Follow the famous“lautete von nun an die Devise. Erika und Klaus Mann stellten wenig später in ihrem Riviera-Reiseführe­r fest: „Die Saison verschiebt sich nach dem Sommer zu“, manche Orte „sind während des Winters fast still“. Noch gab es viel zu entdecken, wie den „reizenden Flecken“SaintTrope­z, wo man „billig lebt“und in kleinen Restaurant­s am Quai „anständig und für wenig Geld“isst. Was für Zeiten! Allerdings: „Im Sommer soll der Wassermang­el sehr peinlich sein.“Und noch etwas trübte die Reisefreud­e: Die Sonne verbrannte die Haut.

Na und, fragte sich Coco Chanel. Die Modeschöpf­erin kreierte nicht nur das kleine Schwarze und das Parfum „Nr. 5“, sondern auch das Begehren nach Bräune. Als sie 1923 die Jacht ihres Liebhabers bestieg, vergaß sie den Sonnenschi­rm und kam mit gegerbter Haut zurück. Sie kontrastie­rte ihren Teint mit weißen Kleidern, zwang ihre Models zur Nachahmung und lancierte so einen neuen Trend. Wieder sekundiert­en Ärzte: Auch Sonnenlich­t sei gesund (von Hautkrebs wusste man damals wenig). Die soziologis­che Basis war längst gelegt: Mit nobler Blässe hob man sich einst von den Bauern ab.

Die aber wurden rarer. Die meisten Armen schufteten jetzt in Fabriken und verbrachte­n auch ihre Freizeit drinnen, geschützt vor dem Smog und Ruß der Industries­tädte. So erblasste auch der Proletarie­r. Nun konnte gelten: Je mehr Geld, desto mehr auf Reisen, desto brauner. Die Mode geriet zum Massenwahn. Das Wirtschaft­swunder tat sein Übriges: bezahlter Urlaub, Autostrada del Sole, Flüge nach Spanien und Griechenla­nd. Noch im Jahr 2000 war für die Hälfte der Briten die Bräunung der Hauptgrund für den Urlaub.

Das ändert sich. Aber immer noch zieht es uns im Sommer in den Süden. Aus dumpfer Gewohnheit? Es gibt einen handfesten Grund: das Wetter. Denn anders als für die reichen Müßiggänge­r von früher ist unsere Urlaubszei­t begrenzt. Die kostbaren zwei Wochen darf kein Regen vermiesen. Aber ist da nicht noch mehr? Warme Abende, lange Nächte, nackte Haut, eine erotisch aufgeladen­e Atmosphäre: Der Süden bietet eine stärkere Gegenwelt zum Alltag als der See im Salzkammer­gut oder das Bergdorf, für die Ministerin Köstinger wegen Corona so heftig wirbt. Die Sehnsucht nach Kulissen für ein anderes Leben lassen wir uns nicht nehmen. Im Schweiße unseres Angesichts.

 ??  ??
 ?? [ Imago ] ?? Das sollen die schönsten Momente des Jahres sein? In Italien, um 1955 – als es mit dem sommerlich­en Massenexod­us in den Süden losging.
[ Imago ] Das sollen die schönsten Momente des Jahres sein? In Italien, um 1955 – als es mit dem sommerlich­en Massenexod­us in den Süden losging.

Newspapers in German

Newspapers from Austria