Vor den Toren Europas kippt der nächste Staat ins Chaos
Ein System mit korrupten Eliten und ohne Lösungskompetenz führt den Libanon in den Abgrund. Die Beiruter Tragödie ist nur ein Symptom dafür.
Es ist ein Bild der Verwüstung, das sich in Libanons Hauptstadt Beirut darbietet. Die schweren Detonationen vom Dienstagabend haben das Hafenviertel zerstört und massive Schäden in weiten Teilen der Stadt angerichtet. Zunächst war noch immer nicht gesichert, wie es zu diesem Fiasko mit so vielen Opfern kommen konnte. Doch allein die erste Erklärung des Innenministers, Mohammed Fahmi, macht sprachlos: Gefährliches Ammoniumnitrat, das seit Jahren – offenbar unsachgemäß – im Hafen gelagert wurde, soll in die Luft geflogen sein. Das heißt nichts anderes als: Wegen einer unglaublichen Schlamperei mussten zahlreiche Menschen sterben, wurden schwer verletzt, verloren ihr Dach über dem Kopf.
Angesichts dieses Irrsinns dürften die Regierenden schon bald den Zorn der Bevölkerung zu spüren bekommen. Über die vergangenen Jahre hinweg hat sich bei den Menschen viel Wut aufgestaut. Immer wieder gab es Proteste: erst wegen des unerträglichen Müllproblems, wegen der Unfähigkeit der politischen Elite, und später wegen der wirtschaftlichen Misere. Die jetzige Katastrophe könnte endgültig das Fass zum Überlaufen bringen.
Schon vor den Detonationen im Hafen steckte der Libanon in einer der tiefsten Krisen seit Langem. Das Land und seine Menschen leiden unter wirtschaftlichem Chaos, einer Finanz- und Versorgungskrise und einem sozialen Desaster. Zugleich hat die Coronapandemie zugeschlagen. Und auch der Krieg beim Nachbarn Syrien hat schwere Auswirkungen: Rund eine Million syrische Flüchtlinge haben im Libanon Aufnahme gefunden – in einem Staat mit selber nur etwa sechs Millionen Einwohnern.
Interne Konflikte, Bürgerkrieg, aber auch Chaos in der Nachbarschaft und Einflussnahme von außen haben dem Libanon seit jeher zugesetzt. Er war Spielball Syriens und Israels und – Anfang der 1980er-Jahre – der palästinensischen PLOEinheiten, die sich im Libanon verschanzt hatten, um gegen Israel zu kämpfen.
Zuletzt ist der Iran ein immer mächtigerer Player in dem Land geworden. Das Regime in Teheran stützt sich bei seinen Aktivitäten auf die Hisbollah – eine politische und militärische Kraft, die den Libanon dominiert. Sie ging aus schiitischen Milizen des Bürgerkriegs hervor. Doch längst ist sie wie ein Staat im Staat und schlagkräftiger als die offizielle libanesische Armee. Die Hisbollah geriert sich als die „Verteidigerin des Libanon“gegen Israel. Dabei hat sie immer wieder mit ihren Aktionen den Libanesen die Probleme mit dem militärisch mächtigen Nachbarn im Süden erst eingebrockt. Etwa beim Krieg 2006, der zu großen Zerstörungen durch israelische Luft- und Bodenoperationen führte.
Die Hisbollah mischt mithilfe iranischer Spezialisten auch im Syrien-Konflikt mit, aufseiten des Machthabers Bashar al-Assad. Der Krieg in Syrien ist nicht nur in Gestalt der Flüchtlinge in den Libanon gekommen, er wurde auch durch die Hisbollah in die andere Richtung getragen. Und es war der Einfluss der Hisbollah, der zu Beginn der Coronapandemie verhinderte, dass der Flugverkehr in den schon vom Virus gebeutelten Iran rasch abgebrochen wurde.
Die Macht der Schiiten-Miliz, die alle Bereiche des Libanon durchsetzt, ist einer der Gründe für die Misere im Land. Doch auch die anderen politischen Kräfte müssen sich Versagen vorwerfen lassen. Ursprünglich wollte man mit dem System, das Posten paritätisch nach Bevölkerungsgruppen wie Sunniten, Schiiten und Christen aufteilt, einen Ausgleich und damit Frieden schaffen. Zugleich ist ein derartiges System aber Einfallstor für Vetternwirtschaft, Korruption und politische Verfilzung – nicht nur im Libanon. Es brachte eine politische Elite hervor, die Problemen wie der Wirtschafts- und Finanzkrise oder der Coronapandemie nicht Herr wird.
Der Libanon ist an einem gefährlichen Punkt angelangt. Die Katastrophe von Beirut sollte aufrütteln, damit im Libanon, in der Region, aber auch in Europa die Kräfte gebündelt werden, um dem Land wieder auf die Beine zu helfen. Andernfalls droht ein weiterer Staat in Europas unmittelbarer Nachbarschaft ins Chaos zu kippen.