„Europa ist eine große Überlebenskünstlerin“
Interview. Die Vize-Kommissionspräsidentin der EU, Veraˇ Jourov´a, und Europaministerin Karoline Edtstadler über die Milliardenpakete im Kampf gegen Corona und das Budget als Hebel zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in der Union.
Die Presse: Beim jüngsten EUGipfel in Brüssel ging es um die Verteilung von unvorstellbaren 1800 Milliarden Euro. Die Vorschläge der Kommission zum Budget und zu Transferleistungen schienen sich zu Beginn stark von den Erwartungen mancher Mitgliedstaaten zu unterscheiden. Können Sie mir erklären, was den Erfolg des Gipfels ausmacht und was Sie beim Ergebnis am meisten vermissen?
Veraˇ Jourova:´ Das Ergebnis des Gipfels ist eine ungeheure Leistung. Ich hätte mir nicht gedacht, dass wir es bei diesem Treffen erzielen würden. Alle 27 Staats- und Regierungschefs waren sich der Dringlichkeit einer Lösung auf Basis des Vorschlags der EU-Kommission bewusst. Wir brauchten Klarheit und Sicherheit fürs Budget und ausreichend Mittel, um den Schaden zu beheben, den die Covid-19-Pandemie verursacht. Es war ein bedeutender Moment für die Erholung und Modernisierung unserer Wirtschaft. Am Ende des Gipfels waren alle zufrieden, nicht alle waren glücklich. Aber es gab Solidarität. Es ging um mehr als nur um Geld.
Karoline Edtstadler: Dass sich die Positionen am Beginn vom Endergebnis unterschieden, ist nicht überraschend. Dass man sich einigen konnte, ist ein großer Erfolg für Europa und auch für Österreich. Bei meinen Kontakten zu den EUMinister-Kollegen und -Kolleginnen hatte ich kurz zuvor noch den Eindruck, dass die unterschiedlichen Zugänge schier unvereinbar wären. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass in fünf Tagen und vier Nächten dieses Ergebnis erzielt wird. Es geht nun um zweckmäßige Verwendung der Gelder, damit wir für weitere Krisen gerüstet sind.
Washington will 3000 Mrd. Dollar zur Überwindung der Covid-19-Krise aufbringen. Sind die USA so reich, oder war die nach der Bevölkerungszahl weit größere EU vielleicht zu sparsam? Edtstadler: Wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern eine Staatengemeinschaft, die gemeinsam auch stärker werden will. Außerdem weiß niemand, wie viel Geld tatsächlich notwendig sein wird, um die Krise zu bewältigen. Das größte Budget aller Zeiten ist ein wesentliches Signal unserer Bereitschaft, gemeinsam aus der Krise zu kommen und solidarisch mit denen zu sein, die am härtesten getroffen wurden. Ich hoffe, dass das EU-Parlament das auch so sieht und dem Paket zustimmt. Jourova:´ Wir haben anfangs primär darüber diskutiert, wer im Verhältnis wie viel zahlen wird und wofür das Geld ausgegeben werden soll. Über die Gesamtsumme haben wir erst danach gesprochen. Wichtig ist, wie wir investieren und wie rasch. Ein Ziel ist die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Wir müssen klug und früh agieren, dann werden wir Erfolg haben. Der Aufbauplan der EU steht ja nicht allein, sondern tritt zu den bereits von den 27 Mitgliedstaaten beschlossenen Krisenmaßnahmen hinzu, die insgesamt fast 30 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts ausmachen. In den USA sind die Einzelstaaten fiskalisch schwach auf der Brust, sodass die Bundesebene mehr klotzen muss – und das fällt ja sichtlich schwer.
Kann die Rechtsstaatlichkeit in der EU effektiv geschützt werden, wenn etwaige Sanktionen die Zustimmung aller EU-Mitglieder erfordern? Wie sagt man denn „nein“auf Ungarisch?
Jourova:´ Das sollte ich nach all den Jahren eigentlich wissen! Nun, wir wollten die Falle des Artikel-7-Verfahrens vermeiden, das beim Votum über systematischen Rechtsbruch Einstimmigkeit erfordert. Als man den 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon beschloss, hat man gewisse Probleme offenbar nicht erahnt. Diese Lektion ist lehrreich für uns. Deswegen wollten wir für den neuen Mechanismus eine Beschlussfassung mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit. Demnach bedarf es 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, um einen Vorschlag der EU-Kommission zu verhindern. Nun geht es aber in Richtung normale qualifizierte Mehrheit, das heißt, wir werden mehr Länder brauchen, die uns unterstützen. Aber immerhin keine Einstimmigkeit.
Edtstadler: Die EU gründet auf den Grundwerten Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Da darf es keine Abstriche geben. Ich habe immer gefordert, dass es eine Verzahnung von Rechtsstaatlichkeit mit dem Finanzrahmen geben muss. Mir wäre eine stärkere Verzahnung noch lieber. Die EU muss jene, die von der Rechtsstaatlichkeit abweichen, so rasch wie möglich wieder auf diesen Weg zurückführen. Vor allem die finanziellen Interessen von Nettoempfängern sind ein mächtiger Hebel dazu. Es braucht eine glaubwürdige Perspektive für Ungarn und Polen, aus ihren Artikel-7-Verfahren herauszukommen. Am besten, indem man mit ihnen spricht. Und es braucht umgekehrt vor allem deren Bereitschaft, entsprechende Schritte zu setzen.
Man hört, dass Polen und Ungarn darauf beharren, dass sie bei dem geplanten Beschluss eines Mechanismus das Vetorecht behalten. Was kann man ihnen anbieten, damit sie nachgeben? Jourova:´ Wir pochen auf Fairness. Es geht immerhin um das Geld europäischer Steuerzahler, sie müssen sichergehen können, dass ihre Mittel korrekt verwendet werden. Also kann man nicht auf absolute Souveränität bestehen.
Was halten Sie vom Vorschlag, dass der Europäische Gerichtshof darüber befinden soll, ob die Rechtsstaatlichkeit verletzt wurde? Wäre das ein Kompromiss für Budapest und Warschau? Edtstadler: Ich habe nichts gegen richterliche Entscheidungen. Richter sind höchst objektiv. Aber leider sehen wir, dass es in den Ländern, über die wir hier sprechen, nicht selbstverständlich scheint, höchstgerichtliche Entscheidungen Europas zu respektieren und umzusetzen. Der einzige Hebel für diese Staaten ist das Budget.
Was geschieht, wenn diese Länder sich dennoch durchsetzen. Könnten sie nicht andere illiberale Nachahmer finden?
Jourova:´ Solch ein Verhalten kann tatsächlich ansteckend sein. Zudem gibt es ein schlechtes Beispiel im Hinblick auf die Beitrittsverhandlungen mit den Staaten des Westbalkans ab. Wir beharren da natürlich auf Rechtsstaatlichkeit.
Illiberale Tendenzen sind weltweit zu beobachten, ob es nun um Fake News, Hate Crime oder andere Kriminalität geht. Was kann Europa dagegen tun? Jourova:´ Die EU mit ihren 450 Millionen Menschen ist der stärkste Binnenmarkt der Welt. Die großen IT-Konzerne der USA machen bei uns circa ein Viertel ihres Gesamtgewinns. Wir haben immer einen recht guten Instinkt dafür bewiesen, welche Risken von den Digitaltechnologien für die Bürger ausgehen. Auch für den Onlinebereich sollte in der EU das Prinzip Verbrechen und Strafe gelten. Es darf im Netz nicht alles erlaubt sein. Es ist natürlich ein schmaler Grat, es darf nicht in Richtung Zensur gehen. Edstadler: Wir wollen eine liberale Gesellschaft, in der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gelebt werden. Voraussetzung dafür ist der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit. Dazu brauchen wir klare gesetzliche Rahmenbedingungen, um die Bürger vor Angriffen im Netz zu schützen. Daran haben sich auch soziale Medien zu halten. Wir brauchen eine europäische Lösung und werden demnächst zudem in Österreich ein Gesetz in Begutachtung schicken, in dem es um die verpflichtende Löschung rechtswidriger Inhalte geht.
Wo orten Sie kurz- und mittelfristig, intern und extern die größten Gefahren für die EU?
Jourova:´ Die größte Gefahr besteht darin, dass wir uns als Europäer unterschätzen. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, Chancen eröffnen. Die Vermeidung von Risken ist in Europa stark ausgeprägt, das kann die Innovationskraft schwächen. Also: Mehr Mut! Mehr Selbstbewusstsein! Mit dem neuen EU-Budget haben wir dies gezeigt. Europa ist eine große Überlebenskünstlerin. Ich glaube fest daran, dass wir aus der Krise gestärkt hervorgehen. Aber wir müssen dafür unsere Hausaufgaben machen. Edtstadler: Die größte Gefahr haben wir eben überwunden, indem wir uns beim EU-Gipfel geeinigt haben. Nationale Sturheit hätte das verhindern können. Die größte Herausforderung ist, ohne Denkverbote über die Zukunft zu reden, auch wenn es Staaten gibt, die nicht so offen für Vertragsänderungen sind. Und die Vizepräsidentin hat recht: Wir müssen nach außen viel stärker auftreten, um in der Welt ernst genommen zu werden.