Sokolov in Salzburg: Hoffnung, aus Melancholie geboren
Festspiele. Standing Ovations für Grigory Sokolov, der Mozart und Schumann gemeinsam grübeln ließ – und ganze sechs Zugaben spielte.
Brahms, Chopin, Bach! Doch wer bei Grigory Sokolov von den Zugaben zu reden anfängt, vermittelt einen falschen Eindruck. Als wäre dieser fantastische Pianist ein unbedarfter Opernsänger, der sich erst durch ein mühsam erlerntes Liedprogramm frettet, um endlich hinterher mit dem Geschmetter altbekannter Arien beim Publikum abzuräumen. Dabei ist bei Sokolov alles Zusammenhang, alles Spontane wirkt wohldurchdacht – ja, er gibt uns das Gefühl, seine Interpretationen würden nur im jeweiligen, aktuellen Kontext und durch die Querverbindungen des Programms ihre Gestalt annehmen.
Der ganze Mozart-Block im ersten Teil des pausenlosen Abends zum Beispiel, dem das Publikum im Großen Festspielhaus dankenswerterweise ohne Zwischenapplaus gelauscht hat, hatte eine Logik des Schmerzlichen, Abgetönten, des grüblerischen Tiefsinns – auch und gerade an seinem populären Höhepunkt, dem „Alla turca“-Finale aus der Sonate KV 331. So wehmütig, ja melancholisch trottete dieser türkische Marsch daher, nur ein, zwei musikalische Herzschläge von einem Schubert’schen „Moment musical“entfernt. Freilich, die massigen und doch außerordentlich sonoren Arpeggi der linken Hand ließen gleich darauf beim Forte an den Schellenbaum der Janitscharen denken – aber darüber war alles kantable Delikatesse. Und so, wie Sokolov die Schlussakkorde bedeutungsvoll abdämpfte, schien danach gar kein anderer Fortgang möglich als mit dem a-Moll-Rondo KV 511, einem sanft klagenden, chromatischen Siciliano, das die etablierte Stimmung noch vertieft und in hingetupften Pianissimo-Akkorden endet.
Den Tonfall der Empfindsamkeit hatte Sokolov schon in den ersten beiden Sätzen der A-Dur-Sonate etabliert, in den kontrastreich dargestellten Variationen wie im weiträumigen Menuett, das sich erst nach ernstem Beginn durch fließende Achtel halbwegs als Tanzsatz zu erkennen gibt: Seinen mäandernden Linien galt Sokolovs zärtliche Liebe.
„Bunte Blätter“, herbstlich getönt
Doch bereits mit dem eingangs gegebenen Präludium und Fuge KV 394 waren alle Ohren im Saal gespitzt, bei dieser enorm weiträumigen, beinah ausufernden Fantasie mit ihren Klangkaskaden, pochenden Tonrepetitionen und wiederkehrenden Sekundreibungen, bevor die Fuge mit ihrem in Phrasierung und Anschlag penibel formulierten Thema desto strengere Ordnung ins Geschehen brachte. Es war genau dieser Detailreichtum im Einzelnen unter einer lastenden Decke der Melancholie, den Sokolov danach mit Schumanns „Bunten Blättern“op. 99 weiter verfolgte – bei ihm eine wahrlich herbstlich getönte Sammlung. Das beginnt wie das kleine Einmaleins, steigert sich aber dann, spätestens ab der Novellette, zu immer gewichtigeren Charakterstücken voll Pathos, Trauer, Altväterlichkeit und, im abschließenden Geschwindmarsch mit seinem bockig punktierten Motiv auf schwerer Zählzeit, zu beinah zirzensischen Capricen: zumindest an diesem Abend unter Sokolovs Händen alles späte, dunkle Echos auf Mozart.
Also sprechen wir erst jetzt von den Zugaben: Allein, dass es auch in Coronazeiten nicht weniger als sechs waren, geriet zum Symbol der Hoffnung, dass es wieder normal werden könnte, das Außergewöhnliche im Überfluss zu genießen. Wessen Augen konnten bei Brahms’ Intermezzo op. 118/2 trocken bleiben? Oder zuletzt bei Busonis Transkription von Bachs „Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ“? Bewegend, wie da jede Stimme ihre Werte an Farbe und Samtigkeit zugeteilt bekam, sich plastisch von den anderen abhob und die Harmonien doch in makelloser Ausgewogenheit zusammenklangen.