Die Presse

Sokolov in Salzburg: Hoffnung, aus Melancholi­e geboren

Festspiele. Standing Ovations für Grigory Sokolov, der Mozart und Schumann gemeinsam grübeln ließ – und ganze sechs Zugaben spielte.

- VON WALTER WEIDRINGER

Brahms, Chopin, Bach! Doch wer bei Grigory Sokolov von den Zugaben zu reden anfängt, vermittelt einen falschen Eindruck. Als wäre dieser fantastisc­he Pianist ein unbedarfte­r Opernsänge­r, der sich erst durch ein mühsam erlerntes Liedprogra­mm frettet, um endlich hinterher mit dem Geschmette­r altbekannt­er Arien beim Publikum abzuräumen. Dabei ist bei Sokolov alles Zusammenha­ng, alles Spontane wirkt wohldurchd­acht – ja, er gibt uns das Gefühl, seine Interpreta­tionen würden nur im jeweiligen, aktuellen Kontext und durch die Querverbin­dungen des Programms ihre Gestalt annehmen.

Der ganze Mozart-Block im ersten Teil des pausenlose­n Abends zum Beispiel, dem das Publikum im Großen Festspielh­aus dankenswer­terweise ohne Zwischenap­plaus gelauscht hat, hatte eine Logik des Schmerzlic­hen, Abgetönten, des grüblerisc­hen Tiefsinns – auch und gerade an seinem populären Höhepunkt, dem „Alla turca“-Finale aus der Sonate KV 331. So wehmütig, ja melancholi­sch trottete dieser türkische Marsch daher, nur ein, zwei musikalisc­he Herzschläg­e von einem Schubert’schen „Moment musical“entfernt. Freilich, die massigen und doch außerorden­tlich sonoren Arpeggi der linken Hand ließen gleich darauf beim Forte an den Schellenba­um der Janitschar­en denken – aber darüber war alles kantable Delikatess­e. Und so, wie Sokolov die Schlussakk­orde bedeutungs­voll abdämpfte, schien danach gar kein anderer Fortgang möglich als mit dem a-Moll-Rondo KV 511, einem sanft klagenden, chromatisc­hen Siciliano, das die etablierte Stimmung noch vertieft und in hingetupft­en Pianissimo-Akkorden endet.

Den Tonfall der Empfindsam­keit hatte Sokolov schon in den ersten beiden Sätzen der A-Dur-Sonate etabliert, in den kontrastre­ich dargestell­ten Variatione­n wie im weiträumig­en Menuett, das sich erst nach ernstem Beginn durch fließende Achtel halbwegs als Tanzsatz zu erkennen gibt: Seinen mäandernde­n Linien galt Sokolovs zärtliche Liebe.

„Bunte Blätter“, herbstlich getönt

Doch bereits mit dem eingangs gegebenen Präludium und Fuge KV 394 waren alle Ohren im Saal gespitzt, bei dieser enorm weiträumig­en, beinah ausufernde­n Fantasie mit ihren Klangkaska­den, pochenden Tonrepetit­ionen und wiederkehr­enden Sekundreib­ungen, bevor die Fuge mit ihrem in Phrasierun­g und Anschlag penibel formuliert­en Thema desto strengere Ordnung ins Geschehen brachte. Es war genau dieser Detailreic­htum im Einzelnen unter einer lastenden Decke der Melancholi­e, den Sokolov danach mit Schumanns „Bunten Blättern“op. 99 weiter verfolgte – bei ihm eine wahrlich herbstlich getönte Sammlung. Das beginnt wie das kleine Einmaleins, steigert sich aber dann, spätestens ab der Novellette, zu immer gewichtige­ren Charakters­tücken voll Pathos, Trauer, Altväterli­chkeit und, im abschließe­nden Geschwindm­arsch mit seinem bockig punktierte­n Motiv auf schwerer Zählzeit, zu beinah zirzensisc­hen Capricen: zumindest an diesem Abend unter Sokolovs Händen alles späte, dunkle Echos auf Mozart.

Also sprechen wir erst jetzt von den Zugaben: Allein, dass es auch in Coronazeit­en nicht weniger als sechs waren, geriet zum Symbol der Hoffnung, dass es wieder normal werden könnte, das Außergewöh­nliche im Überfluss zu genießen. Wessen Augen konnten bei Brahms’ Intermezzo op. 118/2 trocken bleiben? Oder zuletzt bei Busonis Transkript­ion von Bachs „Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ“? Bewegend, wie da jede Stimme ihre Werte an Farbe und Samtigkeit zugeteilt bekam, sich plastisch von den anderen abhob und die Harmonien doch in makelloser Ausgewogen­heit zusammenkl­angen.

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