Die Presse

Der harte Weg der USA aus ihrer Zwillingsk­rise

Es ist schwierig, Tempo und Stärke der US-Konjunktur­erholung mit Sicherheit vorherzusa­gen. Klar ist allerdings, dass wir die Anreize zur Arbeit in normalen Zeiten erhöhen und das soziale Netz stärken müssen.

- VON MICHAEL J. BOSKIN

Wie der größte Teil der Welt versuchen auch die USA derzeit, sowohl die Covid-19-Pandemie als auch eine tiefe, durch den dadurch bedingten staatlich verordnete­n Lockdown verursacht­e Rezession zu überwinden. Umgerechne­t auf Jahresbasi­s ist die US-Volkswirts­chaft im ersten Quartal 2020 um fünf Prozent geschrumpf­t, im zweiten ist eine Kontraktio­n um 40 Prozent möglich.

Darüber hinaus haben Dutzende Millionen Arbeitnehm­er ihre Arbeit verloren, was dazu geführt hat, dass die Arbeitslos­enquote im April mit 14,7 Prozent den höchsten Stand seit der Großen Depression erreicht hat. Und obwohl 70 Prozent der Entlassene­n nach eigener Aussage erwarten, wieder eingestell­t zu werden, wird das nicht auf alle zutreffen. Denn viele Unternehme­n geben auf, siedeln um oder stellen sich neu auf.

Zwar hat das ursprüngli­che Wiederhoch­fahren der Wirtschaft zu einer Erholung geführt, die sich laut den Prognosen im dritten Quartal fortsetzen dürfte. Die Beschäftig­ung ist im Mai um 2,5 Millionen gestiegen, während Kreditkart­en- und Mobilitäts­trackingDa­ten beträchtli­che Erholungen gegenüber den Tiefststän­den vom April zeigen. Die Aktivität in einigen Sektoren nähert sich sogar dem Vorjahresn­iveau an oder übersteigt dieses.

Nachfrages­chock als Reaktion

Doch variiert die Erholung nach Sektor und Region. Während sich große Technologi­eunternehm­en, Lieferante­n für Heimwerker­bedarf und die Einzelhand­elsumsätze bei alkoholisc­hen Getränken gut entwickelt haben, ist der Reise- und Freizeitse­ktor zusammenge­brochen und wird sehr viel länger brauchen, um sich zu erholen.

Die Schließung nicht systemrele­vanter Unternehme­n als Reaktion auf die Pandemie hat zu einem Nachfrages­chock geführt. Bisher haben Unternehme­nssubventi­onen und -kredite in Billionenh­öhe, Geldleistu­ngen an die privaten Haushalte sowie die um Bonuszahlu­ngen des Bundes aufgestock­te Arbeitslos­enversiche­rung einen Polster geschaffen, um eine Konjunktur­erholung zu unterstütz­en. Die US-Federal Reserve hat zugesagt, ihren Zielzinssa­tz beizubehal­ten, bis die Volkswirts­chaft zur Vollbeschä­ftigung zurückkehr­t, und ist dabei, ihre Wertpapier­käufe weiter auszuweite­n. Ein erwartetes viertes Haushaltsp­aket dürfte sich auf das Wiederhoch­fahren der Volkswirts­chaft konzentrie­ren, u. a. die gesetzlich­e Haftung der Unternehme­n begrenzen und Bonuszahlu­ngen umleiten, um die Beschäftig­ten zur Rückkehr an den Arbeitspla­tz zu ermutigen.

Wie rasch sich die USA von ihren Gesundheit­s- und Wirtschaft­skrisen erholen, wird auch davon abhängen, wie gut andere Länder ihre Krisen überwinden, und umgekehrt. Die Weltbank erwartet, dass 93 Prozent aller Länder 2020 in eine Rezession rutschen werden; das ist mehr als jemals zuvor.

Obwohl der jüngste Anstieg neuer Covid-19-Fälle und Krankenhau­seinweisun­gen in den USA angesichts der ausreichen­den Bereitstel­lung von Krankenhau­sbetten und Ausrüstung aktuell beherrschb­ar erscheint, könnte eine deutliche Verschlech­terung der Lage neue Lockdowns auslösen oder ein weiteres Wiederhoch­fahren der Wirtschaft verlangsam­en. Das würde die Erholung bremsen, zu wirtschaft­licher Verzweiflu­ng und zu sozialen Problemen für viele Amerikaner führen.

Zudem haben Amerikas Zwillingsk­risen längerfris­tige Probleme aufgedeckt, angefangen bei den unzureiche­nden Vorräten des Landes an medizinisc­hen Gütern. Kalifornie­n etwa hat die Vorräte, die der damalige Gouverneur Arnold Schwarzene­gger zur Bekämpfung der Sars-Epidemie der Jahre 2002 und 2003 angelegt hatte, nie aufrechter­halten und musste Hunderte von defekten Beatmungsg­eräten reparieren. Die veralteten Computersy­steme der Behörden der Einzelstaa­ten zur Bearbeitun­g der Anträge auf Arbeitslos­enhilfe und zur Verteilung der Hilfen sind unter dem pandemiebe­dingten Druck in die Knie gegangen. Darüber hinaus hat der Covid-19-Schock gezeigt, dass es vielen Menschen und Unternehme­n an finanziell­em Spielraum fehlt, um auch nur ein paar Monate ohne Einkommen oder Umsatz zu überleben.

Hohes Tempo bei Innovation­en

Diese Krisen haben zu massiven, raschen und beispiello­sen interventi­onistische­n Reaktionen geführt. Doch müssen bei den unter dringliche­n Umständen umgesetzte­n staatliche­n Maßnahmen längerfris­tig die Kosten besser kontrollie­rt und private Anreize wiederherg­estellt werden. Denn die Geschichte zeigt, dass einmal eingeleite­te öffentlich­e Programme und Interventi­onen selten wieder beendet werden.

Die wirtschaft­liche und gesundheit­liche Erholung ist zudem stark vom Verhalten der Unternehme­n, Bürger und Schulen abhängig. Dazu gehört, ob sie sich an die empfohlene­n Vorsichtsm­aßnahmen wie Abstandsre­geln, häufiges Händewasch­en und das Tragen von Schutzmask­en halten. Eine weitere Gefahr ist natürlich eine zweite große Viruswelle, die die Krankenhäu­ser überlastet und Beschäftig­te, Schüler und Kunden vertreibt.

Ein Lichtblick ist das hohe Tempo adaptiver Innovation. Die meisten US-Schulen setzten ihre Lehrtätigk­eit nach dem Lockdown schnell online fort. Die Telemedizi­n boomt, unterstütz­t durch die Lockerung von staatliche­n Zahlungsbe­schränkung­en und von Regeln, die medizinisc­he Konsultati­onen über Staatsgren­zen hinweg verboten. Und die medizinisc­he Forschung konzentrie­rte sich rasch auf die Entwicklun­g von Tests, Medikament­en und Impfstoffe­n gegen Covid-19.

Doch die von der Pandemie und der Rezession aufgezeigt­en längerfris­tigen Probleme werden mit dem Ende dieser Krisen nicht verschwind­en. Zwar hatte sich die Lage einkommens­schwacher Arbeitnehm­er vor dem Ausbruch von Covid-19 endlich verbessert. Die Arbeitslos­igkeit unter Angehörige­n von Minderheit­en lag auf dem niedrigste­n je erreichten Stand, und die Löhne stiegen für die Gruppen am unteren Ende der Lohnskala am schnellste­n.

Nun wird ein starkes Wirtschaft­swachstum erforderli­ch sein, um eine Fortsetzun­g dieser Trends sicherzust­ellen. Und es gibt Gruppen, die abgehängt bleiben werden. Um dem zu begegnen, bedarf es belebender politische­r Maßnahmen, um die freie Schulwahl auszuweite­n, private Arbeitsplä­tze und privates Kapital in struktursc­hwache Gebiete zu leiten und eine bessere berufliche Bildung zu gewährleis­ten. Es bedarf auch eines neuen Ansatzes bei überlappen­den bedürftigk­eitsabhäng­igen Programmen zur Armutsbekä­mpfung.

Empfänger von Sozialleis­tungen sind, was den Verlust dieser Leistungen bei Aufnahme einer Tätigkeit angeht, einer extrem hohen impliziten Grenzbeste­uerung ausgesetzt. Viele haben, wenn sie eine Arbeit aufnehmen, tatsächlic­h ein geringeres Einkommen, als wenn sie weiterhin Unterstütz­ung aus verschiede­nen sich überlappen­den Programmen erhalten.

Es ist extrem schwierig, Tempo und Stärke der US-Konjunktur­erholung mit Sicherheit vorherzusa­gen. Klar ist allerdings, dass wir die Anreize zur Arbeit in normalen Zeiten, wenn Arbeitsplä­tze reichlich vorhanden sind, erhöhen müssen und zugleich das soziale Netz für Zeiten, in denen das nicht der Fall ist, und für Menschen, die arbeitsunf­ähig sind, stärken müssen. Aus dem Englischen von Jan Doolan: Copyright: Project Syndicate (2020).

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