Der harte Weg der USA aus ihrer Zwillingskrise
Es ist schwierig, Tempo und Stärke der US-Konjunkturerholung mit Sicherheit vorherzusagen. Klar ist allerdings, dass wir die Anreize zur Arbeit in normalen Zeiten erhöhen und das soziale Netz stärken müssen.
Wie der größte Teil der Welt versuchen auch die USA derzeit, sowohl die Covid-19-Pandemie als auch eine tiefe, durch den dadurch bedingten staatlich verordneten Lockdown verursachte Rezession zu überwinden. Umgerechnet auf Jahresbasis ist die US-Volkswirtschaft im ersten Quartal 2020 um fünf Prozent geschrumpft, im zweiten ist eine Kontraktion um 40 Prozent möglich.
Darüber hinaus haben Dutzende Millionen Arbeitnehmer ihre Arbeit verloren, was dazu geführt hat, dass die Arbeitslosenquote im April mit 14,7 Prozent den höchsten Stand seit der Großen Depression erreicht hat. Und obwohl 70 Prozent der Entlassenen nach eigener Aussage erwarten, wieder eingestellt zu werden, wird das nicht auf alle zutreffen. Denn viele Unternehmen geben auf, siedeln um oder stellen sich neu auf.
Zwar hat das ursprüngliche Wiederhochfahren der Wirtschaft zu einer Erholung geführt, die sich laut den Prognosen im dritten Quartal fortsetzen dürfte. Die Beschäftigung ist im Mai um 2,5 Millionen gestiegen, während Kreditkarten- und MobilitätstrackingDaten beträchtliche Erholungen gegenüber den Tiefstständen vom April zeigen. Die Aktivität in einigen Sektoren nähert sich sogar dem Vorjahresniveau an oder übersteigt dieses.
Nachfrageschock als Reaktion
Doch variiert die Erholung nach Sektor und Region. Während sich große Technologieunternehmen, Lieferanten für Heimwerkerbedarf und die Einzelhandelsumsätze bei alkoholischen Getränken gut entwickelt haben, ist der Reise- und Freizeitsektor zusammengebrochen und wird sehr viel länger brauchen, um sich zu erholen.
Die Schließung nicht systemrelevanter Unternehmen als Reaktion auf die Pandemie hat zu einem Nachfrageschock geführt. Bisher haben Unternehmenssubventionen und -kredite in Billionenhöhe, Geldleistungen an die privaten Haushalte sowie die um Bonuszahlungen des Bundes aufgestockte Arbeitslosenversicherung einen Polster geschaffen, um eine Konjunkturerholung zu unterstützen. Die US-Federal Reserve hat zugesagt, ihren Zielzinssatz beizubehalten, bis die Volkswirtschaft zur Vollbeschäftigung zurückkehrt, und ist dabei, ihre Wertpapierkäufe weiter auszuweiten. Ein erwartetes viertes Haushaltspaket dürfte sich auf das Wiederhochfahren der Volkswirtschaft konzentrieren, u. a. die gesetzliche Haftung der Unternehmen begrenzen und Bonuszahlungen umleiten, um die Beschäftigten zur Rückkehr an den Arbeitsplatz zu ermutigen.
Wie rasch sich die USA von ihren Gesundheits- und Wirtschaftskrisen erholen, wird auch davon abhängen, wie gut andere Länder ihre Krisen überwinden, und umgekehrt. Die Weltbank erwartet, dass 93 Prozent aller Länder 2020 in eine Rezession rutschen werden; das ist mehr als jemals zuvor.
Obwohl der jüngste Anstieg neuer Covid-19-Fälle und Krankenhauseinweisungen in den USA angesichts der ausreichenden Bereitstellung von Krankenhausbetten und Ausrüstung aktuell beherrschbar erscheint, könnte eine deutliche Verschlechterung der Lage neue Lockdowns auslösen oder ein weiteres Wiederhochfahren der Wirtschaft verlangsamen. Das würde die Erholung bremsen, zu wirtschaftlicher Verzweiflung und zu sozialen Problemen für viele Amerikaner führen.
Zudem haben Amerikas Zwillingskrisen längerfristige Probleme aufgedeckt, angefangen bei den unzureichenden Vorräten des Landes an medizinischen Gütern. Kalifornien etwa hat die Vorräte, die der damalige Gouverneur Arnold Schwarzenegger zur Bekämpfung der Sars-Epidemie der Jahre 2002 und 2003 angelegt hatte, nie aufrechterhalten und musste Hunderte von defekten Beatmungsgeräten reparieren. Die veralteten Computersysteme der Behörden der Einzelstaaten zur Bearbeitung der Anträge auf Arbeitslosenhilfe und zur Verteilung der Hilfen sind unter dem pandemiebedingten Druck in die Knie gegangen. Darüber hinaus hat der Covid-19-Schock gezeigt, dass es vielen Menschen und Unternehmen an finanziellem Spielraum fehlt, um auch nur ein paar Monate ohne Einkommen oder Umsatz zu überleben.
Hohes Tempo bei Innovationen
Diese Krisen haben zu massiven, raschen und beispiellosen interventionistischen Reaktionen geführt. Doch müssen bei den unter dringlichen Umständen umgesetzten staatlichen Maßnahmen längerfristig die Kosten besser kontrolliert und private Anreize wiederhergestellt werden. Denn die Geschichte zeigt, dass einmal eingeleitete öffentliche Programme und Interventionen selten wieder beendet werden.
Die wirtschaftliche und gesundheitliche Erholung ist zudem stark vom Verhalten der Unternehmen, Bürger und Schulen abhängig. Dazu gehört, ob sie sich an die empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen wie Abstandsregeln, häufiges Händewaschen und das Tragen von Schutzmasken halten. Eine weitere Gefahr ist natürlich eine zweite große Viruswelle, die die Krankenhäuser überlastet und Beschäftigte, Schüler und Kunden vertreibt.
Ein Lichtblick ist das hohe Tempo adaptiver Innovation. Die meisten US-Schulen setzten ihre Lehrtätigkeit nach dem Lockdown schnell online fort. Die Telemedizin boomt, unterstützt durch die Lockerung von staatlichen Zahlungsbeschränkungen und von Regeln, die medizinische Konsultationen über Staatsgrenzen hinweg verboten. Und die medizinische Forschung konzentrierte sich rasch auf die Entwicklung von Tests, Medikamenten und Impfstoffen gegen Covid-19.
Doch die von der Pandemie und der Rezession aufgezeigten längerfristigen Probleme werden mit dem Ende dieser Krisen nicht verschwinden. Zwar hatte sich die Lage einkommensschwacher Arbeitnehmer vor dem Ausbruch von Covid-19 endlich verbessert. Die Arbeitslosigkeit unter Angehörigen von Minderheiten lag auf dem niedrigsten je erreichten Stand, und die Löhne stiegen für die Gruppen am unteren Ende der Lohnskala am schnellsten.
Nun wird ein starkes Wirtschaftswachstum erforderlich sein, um eine Fortsetzung dieser Trends sicherzustellen. Und es gibt Gruppen, die abgehängt bleiben werden. Um dem zu begegnen, bedarf es belebender politischer Maßnahmen, um die freie Schulwahl auszuweiten, private Arbeitsplätze und privates Kapital in strukturschwache Gebiete zu leiten und eine bessere berufliche Bildung zu gewährleisten. Es bedarf auch eines neuen Ansatzes bei überlappenden bedürftigkeitsabhängigen Programmen zur Armutsbekämpfung.
Empfänger von Sozialleistungen sind, was den Verlust dieser Leistungen bei Aufnahme einer Tätigkeit angeht, einer extrem hohen impliziten Grenzbesteuerung ausgesetzt. Viele haben, wenn sie eine Arbeit aufnehmen, tatsächlich ein geringeres Einkommen, als wenn sie weiterhin Unterstützung aus verschiedenen sich überlappenden Programmen erhalten.
Es ist extrem schwierig, Tempo und Stärke der US-Konjunkturerholung mit Sicherheit vorherzusagen. Klar ist allerdings, dass wir die Anreize zur Arbeit in normalen Zeiten, wenn Arbeitsplätze reichlich vorhanden sind, erhöhen müssen und zugleich das soziale Netz für Zeiten, in denen das nicht der Fall ist, und für Menschen, die arbeitsunfähig sind, stärken müssen. Aus dem Englischen von Jan Doolan: Copyright: Project Syndicate (2020).
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